Die Eisprinzessin schläft
schlimmste waren jedoch nicht die Schläge, sondern daß man unentwegt in ihrem Schatten lebte. Schon auf das nächste Mal wartete, wenn er wieder die Fäuste hob. Das Schrecklichste war, daß er es sehr wohl wußte und mit ihrer Angst spielte. Er hob die Hand zum Schlag und verwandelte ihn dann lächelnd in ein Streicheln. Manchmal schlug er sie anscheinend ohne jeden Grund. Einfach so. Zwar brauchte er auch sonst nicht gerade einen Grund, aber in diesen Momenten fuhr ihr seine Faust mitten in einer Diskussion über das Einkaufen von Lebensmitteln oder darüber, welche Fernsehsendung sie anschauen wollten, plötzlich in den Magen, traf sie auf den Kopf, den Rücken oder wo immer es ihm gefiel. Danach setzte er, ohne den Faden auch nur einen Augenblick zu verlieren, die Konversation fort, so als sei nichts geschehen, während sie am Boden lag und nach Luft schnappte. Er genoß seine Macht.
Lucas’ Sachen lagen überall im Schlafzimmer verstreut, und mühsam hob sie ein Kleidungsstück nach dem anderen auf und hängte sie auf Bügel oder legte sie in den Wäschekorb. Als alles wieder perfekt war, ging sie nach den Kindern sehen. Adrian schlief ruhig, lag leise schniefend auf dem Rücken, den Nuckel im Mund. Emma saß still in ihrem Bett und spielte. Anna blieb einen Moment in der Türöffnung stehen, um sie zu betrachten. Sie ähnelte Lucas sehr. Dasselbe entschlossene, kantige Gesicht und die eisblauen Augen. Derselbe Eigensinn.
Emma war einer der Gründe, weshalb sie nicht aufhören konnte, Lucas zu lieben. Es nicht zu tun, gäbe ihr das Gefühl, einen Teil von Emma zu verleugnen. Er war ein Teil der Tochter und daher auch ein Teil von ihr. Er war den Kindern auch ein guter Vater. Adrian war noch zu klein, um das zu verstehen, aber Emma vergötterte Lucas, und Anna konnte ihr einfach nicht den Vater nehmen. Wie sollte sie die Kinder von dem wegreißen, der ihnen wie sie selbst Sicherheit gab, wie all das, was ihnen vertraut und wichtig war, zerstören? Statt dessen mußte sie versuchen, stark genug für sie beide zu sein, dann würden sie das hier schon durchstehen. Am Anfang war es schließlich nicht so gewesen. Also konnte es doch auch wieder gut werden. Wenn sie nur stark blieb. Er sagte doch immer, daß er sie eigentlich nicht schlagen wolle, daß es nur zu ihrem Besten sei, weil sie nicht das tue, was sie solle. Wenn sie sich nur ein bißchen mehr anstrengen, eine bessere Ehefrau werden könnte. Sie verstehe ihn nicht, sagte er. Wenn sie nur das finden würde, was ihn glücklich machte, die richtigen Dinge tun könnte, damit er nicht ständig von ihr enttäuscht sein mußte.
Erica konnte das nicht verstehen. Erica mit ihrer Selbständigkeit und ihrer Einsamkeit, mit ihrem Mut und ihrer überwältigenden, erstickenden Fürsorge. Anna konnte die Verachtung in Ericas Stimme hören, und die brachte sie zur Weißglut. Was wußte Erica schon von der Verantwortung, die darin lag, eine Ehe und eine Familie zu führen! Daß die Verantwortung, die man auf den Schultern trug, so groß war, daß man sich kaum aufrecht halten konnte. Erica mußte sich nur um sich selber kümmern. Sie war schon immer neunmalklug gewesen. Ericas übertriebene mütterliche Fürsorge für die Schwester hatte Anna zuweilen fast erstickt. Überallhin waren ihr Ericas unruhige, wachsame Augen gefolgt, auch wenn sie am liebsten in Ruhe gelassen worden wäre. Was spielte es für eine Rolle, daß sich die Mutter nicht um die Töchter kümmerte? Sie hatten doch wenigstens den Vater gehabt. Einer von zweien war doch nicht ganz so schlecht. Im Unterschied zu Erica akzeptierte sie diese Tatsache, während Erica den Grund erfahren wollte. Oft hatte die Schwester die Fragen auch nach innen gerichtet und die Ursache bei sich selber gesucht. Deshalb hatte sie sich ständig viel zu sehr bemüht. Anna ihrerseits zog es vor, sich überhaupt nicht anzustrengen. Es war einfacher, nicht zu grübeln, mit dem Strom mitzuschwimmen und jeden Tag zu nehmen, wie er kam. Deshalb empfand sie eine solche Bitterkeit gegenüber Erica. Die machte sich Sorgen, kümmerte sich, verhätschelte die kleine Schwester, und das machte es so viel schwieriger, einfach die Augen vor der Wahrheit und der sie umgebenden Welt zu verschließen. Von zu Hause wegzuziehen war für Anna eine Riesenbefreiung gewesen, und als sie dann kurz darauf Lucas kennenlernte, glaubte sie, endlich den einzigen Menschen gefunden zu haben, der sie so lieben konnte, wie sie war, und der vor allen Dingen ihr
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