Die Eisprinzessin schläft
letzten Zeit hatte sie nicht die Kraft gehabt, mit dem Durchsortieren weiterzumachen, und so standen überall halbvolle Müllsäcke und Kisten herum. Auch in ihrem Inneren gab es Räume, zur Hälfte gefüllt mit losen Enden und unentwirrten Gefühlsknäueln.
Den ganzen Nachmittag hatte sie außerdem über die Szene zwischen Dan und Pernilla nachgedacht, bei der sie Zeuge gewesen war. Sie brachte das einfach nicht auf die Reihe. Es war so viele Jahre her, daß es zwischen ihr und Pernilla Spannungen gegeben hatte, und die waren seit langem ausgeräumt. Jedenfalls hatte Erica das geglaubt. Warum hatte Pernilla dann so reagiert? Erica überlegte, ob sie Dan anrufen sollte, aber traute sich nicht richtig, denn vielleicht ging ja Pernilla ans Telefon. Einen weiteren Konflikt verkraftete sie im Moment nicht, und deshalb entschloß sie sich, die Sache auf sich beruhen zu lassen und davon auszugehen, daß Pernilla einfach mit dem falschen Fuß aufgestanden war und sich das Ganze erledigt hatte, wenn sie sich das nächste Mal trafen. Doch ganz wurde sie die Sache nicht los. Pernillas Temperamentsausbruch war nicht zufällig erfolgt, da steckte irgend etwas dahinter. Nur konnte sie beim besten Willen nicht begreifen, was es war.
Daß sie mit dem Buch so hinterherhinkte, belastete sie ungemein, und sie beschloß, ihr Gewissen zu beruhigen und sich ein Weilchen mit dem Text zu beschäftigen. Sie setzte sich an den Computer und begriff, daß sie die Wärme des Pullovers verlassen mußte, um arbeiten zu können. Anfangs ging es nur schleppend voran, doch dann wurde ihr warm, und sie kam in Schwung. Sie beneidete die Autoren, die bei ihrem Schreiben strenge Disziplin hielten. Sie selbst mußte sich jedesmal zur Arbeit zwingen. Nicht aus Faulheit, sondern wegen der tief sitzenden Angst, daß sie ihre Fähigkeit seit dem letzten Mal verloren haben könnte. Vielleicht säße sie ja da, die Finger auf der Tastatur, und nichts passierte. Nur Leere wäre da, und die Worte fehlten, so daß sie wußte, sie würde nie wieder einen Satz aufs Papier bringen. Es war jedesmal eine Erleichterung, wenn das Befürchtete nicht eintraf. Jetzt flogen ihre Finger über die Tasten, und sie hatte in nur einer Stunde mehr als zwei Seiten fertig. Nach weiteren drei war sie der Meinung, eine Belohnung verdient zu haben. Die bestand darin, sich ein Weilchen dem Buch über Alex’ Leben widmen zu dürfen.
Die Zelle war ihm bestens bekannt. Er saß nicht das erste Mal hier. Nächte im totalen Suff, auf dem Fußboden der Zelle Erbrochenes, das war Alltagskost in den Zeiten, wo er richtig übel dran war. Doch diesmal war es anders. Diesmal war es ernst.
Er legte sich auf der harten Pritsche auf die Seite, krümmte sich zusammen wie ein Kind im Mutterleib und legte die Hände unter den Kopf, damit der Plastikbezug nicht am Gesicht festklebte. Kälteschauer schüttelten ihn, wegen der schlecht geheizten Zelle und weil der Alkohol aus seinem Körper verschwand.
Man hatte ihm nur mitgeteilt, daß er des Mordes an Alex verdächtigt wurde. Dann hatten sie ihn in die Zelle gescheucht und gesagt, er habe zu warten, bis man ihn hole. Was glaubten sie, was er hier in der kahlen Zelle sonst tun sollte? Kurse im Zeichnen von Geländeskizzen geben? Anders grinste vor sich hin.
Die Gedanken bewegten sich nur mühsam, wenn es nichts gab, worauf man den Blick ruhen lassen konnte. Die ramponierten Betonwände waren hellgrün, mit grauen Flecken dort, wo die Farbe abgeblättert war. In Gedanken bemalte er sie mit starken Farben. Ein roter Pinselstrich hier, ein gelber da. Kräftige Schwünge, die schnell das schäbige Grün bedeckten. Vor seinem inneren Auge wurde der Raum zu einer einzigen Kakophonie der Farben, und erst da konnte er seine Gedanken konzentrieren.
Alex war tot. Das war kein Gedanke, dem er entfliehen konnte, wenn er es wollte, sondern eine unumstößliche Tatsache. Sie war tot und mit ihr auch seine Zukunft.
Bald würden sie ihn holen kommen. Würden an ihm herumzerren. Ihm einen heftigen Stoß versetzen, ihn verhöhnen, ihn so lange bearbeiten, bis die Wahrheit nackt und zitternd vor ihnen lag. Er konnte sie nicht stoppen. Er wußte nicht einmal, ob er gestoppt werden wollte. Da war so vieles, was er nicht wußte. Nicht, daß er zuvor so viel mehr gewußt hätte. Nur weniges hatte genug Kraft, um die versöhnlichen Alkoholnebel zu durchdringen. Nur Alex hatte es geschafft. Nur das Wissen, daß sie irgendwo dieselbe Luft atmete, dieselben Gedanken
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