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Die Eissphinx

Die Eissphinx

Titel: Die Eissphinx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Lieutenant wieder auf dem Verdeck und Hearne folgte ihm nach. Wie durch ein Wunder hatten Scheidewände. Rippen und Schiffsbekleidung grade an der Stelle, wo der Segelmeister eingesperrt war, völlig stand gehalten.
    Hearne lief längs der Goëlette hin, schloß sich, ohne ein Wort zu äußern, seinen Kameraden wieder an und wir hatten zunächst nichts mehr mit ihm zu thun.
    Gegen sechs Uhr morgens verschwand der Nebel infolge einer merkbaren Temperaturerniedrigung. Es handelte sich dabei nicht um Dünste, die sich ganz zu Eis verwandelten, sondern es bildete sich der sogenannte Rauhfrost, der unter diesen hohen Breiten zuweilen beobachtet wird. Der Kapitän Len Guy erkannte die Erscheinung an der ungeheuern Menge prismatischer Fäden oder Fasern mit im Sinne der Windrichtung gerichteter Spitze, die von der dünnen, auf den Seiten des Eisbergs abgelagerten Schicht hervorstanden. Dieser Rauhfrost darf nicht mit dem Reif der gemäßigten Zone verwechselt werden, denn letzterer entsteht erst durch Erstarrung auf dem Erdboden u. s. w. abgelagerter Feuchtigkeit.
    Jetzt vermochten wir auch die Größe der Eismasse zu beurtheilen, auf der wir wie Fliegen auf einem Zuckerhute saßen, und von unten gesehen, konnte die Goëlette sicherlich nicht größer erscheinen, als die Jolle eines Handelschiffes.
    Der Eisberg, dessen Umfang drei-bis vierhundert Toisen betragen mochte, hatte eine Höhe von hundertdreißig bis hundertvierzig Fuß. Er mußte demnach, der Rechnung nach, vier-bis fünfmal so tief im Wasser liegen und folglich ein Gewicht von Millionen von Tonnen haben.
    Mit demselben war folgendes vorgegangen:
    Nachdem der unterste Theil des Eisbergs durch die Berührung mit wärmerem Wasser zernagt war, hatte er sich etwas gehoben, wodurch sein Schwerpunkt verlegt wurde; dann aber konnte eine Gleichgewichtslage nur durch einen plötzlichen Umsturz wieder hergestellt werden, und dadurch war über die Meeresfläche gehoben worden, was früher darunter lag Von dieser Schaukelbewegung gepackt, war auch die »Halbrane« wie durch einen ungeheuern Hebelarm emporgeschnellt worden. In den Polarmeeren »wenden sich« gar häufig Eisberge »auf die andere Seite«, und das bildet eine der größten Gefahren für Schiffe, die sich gerade in ihrer Nähe befinden.
    Unsere Goëlette lag jetzt in einer Vertiefung in der Westflanke des Eisbergs eingesenkt. Mit emporgetriebenem Hintertheil und gesenktem Vordertheile neigte sie sich weit über Backbord.
     

    Die »Halbrane« neigte sich weit über Backbord. (S. 315.)
     
    Das erweckte in uns den Gedanken, daß sie beim geringsten Stoße wohl die Böschung des Eisbergs hinab und ins Meer gleiten könne. Auf der Seite, nach der hin sie lag, war der Anprall heftig genug gewesen, um einige Planken der Rumpfwand und der Schanzkleidung, in der Länge von etwa zwei Toisen, einzudrücken. Gleich beim ersten Stoße waren die Seile, die die Küche vor dem Fockmast festhielten, gesprungen und diese bis zum Eingange des Deckhauses hinuntergepoltert, dessen Thür, zwischen den beiden Cabinen des Kapitän Len Guy und des Lieutenants, aus den Haspen gerissen war. Bramstenge und Oberbramstenge waren nach Zerreißung der Wanten heruntergestürzt, und man sah die frische Bruchstelle in der Höhe des Eselshauptes. Trümmer aller Art, Raaen, Balken, ein Theil der Segel, Fässer, Kisten, Hühnerkäfige u. dgl., alles lief Gefahr, nach dem Grunde der Eisklippe hinabzugleiten und mit ihr wegzutreiben.
    Am meisten beunruhigte uns in der gegenwärtigen Lage der Umstand, daß das eine Boot der »Halbrane«, das an Backbord, bei dem Unfalle zertrümmert worden war. Jetzt besaßen wir nur noch das zweite – zum Glück das größere – das in den Dävits an Steuerbord hing. Vor allem galt es nun dieses, vielleicht unser einziges Rettungsmittel, in Sicherheit zu bringen.
    Aus der ersten Besichtigung ergab sich, daß die Untermasten der Goëlette fest stehen geblieben waren und, wenn das Fahrzeug etwa wieder flott wurde, noch Dienste leisten konnten. Wie vermochten wir unser Fahrzeug aber dieser Eisbucht zu entreißen, es seinem natürlichen Element zurückzugeben, es wie ein neugebautes Schiff gleichsam vom Stapel zu lassen?
    Als ich mit dem Kapitän Len Guy, dem Lieutenant und dem Hochbootsmann allein war, fragte ich sie um ihre Ansicht hierüber.
    »Unbestritten ist ein solcher Versuch mit großen Gefahren verknüpft, antwortete Jem West, da er aber unumgänglich ist, werden wir ihn unternehmen. Ich glaube, wir müssen

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