Die Eissphinx
unerwartet an mich herantrat.
»Täusche ich mich nicht, begann der Mann, so fängt die Zeit an, Ihnen etwas lang zu werden, Herr Jeorling?«
Es war ein starker, großer Amerikaner, seit etwa fünfzehn Jahren in Christmas-Harbour seßhaft und bewirthschaftete hier das einzige Gasthaus des Hafenorts.
»Freilich, etwas gar zu lang, muß ich wohl gestehen, Meister Atkins, unter der Voraussetzung, daß Sie sich durch meine Antwort nicht verletzt fühlen.
– Keineswegs, versicherte der wackre Mann. Sie können sich wohl denken, daß ich gegen solche Klagen gefeit bin wie die Felsen des Cap François gegen den Anprall der Wogen…
– Und Sie leisten ebenso festen Widerstand wie dieses…
– Natürlich! Von dem Tage an, wo Sie in Christmas-Harbour eintrafen, wo Sie bei Fenimore Atkins, im »Grünen Cormoran« einkehrten, hab’ ich mir gesagt: Binnen vierzehn, wenn nicht schon binnen acht Tagen wird mein neuer Gast des Aufenthalts hier überdrüssig sein und es bedauern, an den Kerguelen gelandet zu haben…
– O nein, Meister Atkins, ich bedauere nie etwas, was ich gethan hatte!
– Eine löbliche Gewohnheit, lieber Herr!
– Bei Durchstreifung der hiesigen Inselgruppe hab ich übrigens mancherlei merkwürdige Beobachtungen machen können. Ich bin durch die weiten hügeligen und von Torfmooren unterbrochenen Ebenen gewandert, die von harten Moosarten bedeckt sind, und nehme davon seltene mineralogische und geologische Fundstücke mit heim. Ich habe an den Seekälber-und Robbenjagden theilgenommen und die Einöden besucht, wo Pinguine und Albatrosse in guter Kameradschaft hausen – das ist mir schon der Beachtung werth gewesen. Sie haben mir zuweilen einen Balthasar-Sturmvogel, von eigener Hand zubereitet, vorgesetzt, und den kann sich, wer guten Appetit hat, schon gefallen lassen. Endlich fand ich im »Grünen Cormoran« die beste Aufnahme, wofür ich Ihnen sehr dankbar bin…. Doch, wenn ich zählen gelernt habe, sind es nun zwei Monate, seit mich der chilenische Dreimaster »Pênas« im Christmas-Harbour, mitten im tiefen Winter absetzte….
– Und nun haben Sie das Verlangen, nach Ihrer Heimat, die auch die meinige ist, Herr Jeorling, zurückzukehren, nach Connecticut zu kommen, Providence, unsere Hauptstadt, endlich wiederzusehen….
– Gewiß, Meister Atkins, denn schon seit fast drei Jahren schweife ich in der Welt umher. Heute oder morgen muß das doch ein Ende nehmen, muß ich wieder Wurzel schlagen…
– Ei, ei, wenn man einmal Wurzel schlägt, fiel der Amerikaner mit den Augen blinzelnd ein, dann treibt man schließlich auch Zweige!
»Die Zeit fängt an, Ihnen etwas lang zu werden, Herr Jeorling?« (S. 7.)
– Ganz richtig, Meister Atkins; doch da ich keine Familie mehr habe, werd’ ich höchst wahrscheinlich die Reihe meiner Vorfahren abschließen. Bei meinen vierzig Jahren wird es mir kaum einfallen, noch Zweige treiben zu wollen, wie Sie, mein lieber Herr Wirth, denn Sie sind schon ein Baum, sogar ein schöner Baum…
– Eine Eiche, eine immergrüne Eiche, wenn Sie gestatten, Herr Jeorling!
– O, Sie haben sehr wohl daran gethan, den Gesetzen der Natur zu gehorchen. Und gab die Natur uns Beine zum Gehen…
– So gab sie uns auch Gelegenheit, uns irgendwo festzusetzen, ergänzte Fenimore Atkins den Satz. Deshalb hab’ ich mich vor nun fünfzehn Jahren in Christmas-Harbour niedergelassen und hier geheiratet… mein Weib Betsey hat mich mit zehn Kindern beschenkt, diese werden mir wieder Enkel bescheeren, die mir wie Kätzchen an den Beinen hinaufklettern…
– Und Sie werden nie nach Ihrem Vaterlande zurückkehren?
– Was sollte ich dort beginnen, Herr Jeorling, und was hätte ich da gehabt? Das reine Elend! Hier auf den Desolations-Inseln (Inseln der Verlassenheit), wo ich nie dazu kam, mich verlassen zu fühlen, hier blühte mir und den Meinen das Glück!
– Gewiß, Meister Atkins, und ich gratuliere Ihnen dazu, daß Sie sich glücklich fühlen! Immerhin ist es nicht ausgeschlossen, daß Sie eines Tages den Wunsch empfänden…
– Mich in anderen Boden zu verpflanzen, Herr Jeorling? O, was denken Sie! Ich bin eine Eiche, sagte ich Ihnen, nun verpflanzen Sie einmal eine Eiche, wenn diese bis zum halben Stamm im Kieselgestein der Kerguelen festgewurzelt ist!«
Es war ein Vergnügen, dem würdigen Amerikaner zuzuhören, dem Manne, der sich so vollständig auf diesem Archipel eingewohnt und gegen die rauhe Unbill des Klimas hier abgehärtet hatte. Er lebte mit seiner
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