Die Elementare von Calderon
nicht?« Tavi wurde übel.
Kitai starrte ihn kühl an. Mit wenigen Schritten war er bei der Krähe. Er zog sein Messer, bückte sich und schnitt die Oberfläche der Ausbuchtung auf. Dann packte er die Krähe am Hals und zog sie aus dem Schleim des Kroatsch .
Teile des Vogels lösten sich, wie Fleisch von einem Braten, der bei der richtigen Hitze lange genug im Ofen geblieben war. Das Tier gab ein Krächzen von sich, versuchte jedoch nicht einmal
mehr, den Schnabel zu schließen. Die Augen blinzelten und wurden dann glasig.
»Das dauert nur wenige Stunden«, meinte Kitai und ließ die Überreste zurück in das Loch im Wachs fallen. »Siehst du, Aleraner?«
Tavi konnte den Blick nicht vom Boden abwenden. »Ich... ja.«
Kitai verzog das Gesicht. Er drehte sich um und ging an der Felswand entlang davon. »Wir müssen los. Die Hüter werden kommen und die kaputte Stelle im Kroatsch untersuchen. Wir sollten lieber nicht hier sein, wenn sie eintreffen.«
»Nein«, flüsterte Tavi. »Ich denke, wir soll-«
In den Bäumen bemerkte er eine Bewegung.
Zuerst nahm er sie nur undeutlich wahr. Lediglich ein Wachsklumpen an einem Baumstamm. Aber er zitterte und zuckte wie lebendig. Tavi dachte im ersten Moment, es sei nur ein Stück vom Kroatsch , das abgebrochen war und nun zur Erde fallen würde. Jedenfalls hatte es eine klumpige Form und leuchtete genauso grün wie der Rest des Wachses. Aber während der aleranische Junge zuschaute, schlängelten sich Beine heraus. Eine Art Kopf schob sich aus einer panzerartigen Hülle des Kroatsch , mit hellen, riesigen Rundaugen. Alles in allem reckten sich schließlich acht mehrgliedrige Beine aus dem Ding, und dann begann es mit widerwärtiger Geschmeidigkeit am Stamm hinunter und zu dem Loch in der Oberfläche zu krabbeln, wo grünliche Flüssigkeit blubberte und aufstieg wie Blut aus einer offenen Wunde.
Eine Wachsspinne. Ein Hüter der Stille. Leise und fremdartig und so groß wie ein Hund. Tavi starrte das Wesen an und spürte, wie sein Herz klopfte.
Er warf Kitai einen Blick zu, der ebenso reglos dastand und den Hüter anstarrte. Das Wesen beugte sich vor und öffnete die Mundwerkzeuge unten am Kopf. Es hob Stücke der Krähe auf
und stopfte sie mit den vordersten Beinen zurück in die offene Wunde des Kroatsch . Dann hielt es über dem Schnitt, arbeitete mit den Beinen und schloss das Wachs mit methodischen Bewegungen über dem Kadaver.
Kitai gab Tavi einen Wink und legte die Hand auf den Mund, ein unmissverständliches Zeichen, still zu sein. Tavi nickte und wollte zu Kitai gehen. Der Marat riss die Augen entsetzt auf und hob die Hände, um Tavi zu bedeuten, sich nicht zu bewegen.
Hinter ihm stockte das leise Rascheln des Hüters auf dem Wachs. Aus den Augenwinkeln sah Tavi, wie das Wesen die Glieder unter sich geführt hatte und unablässig auf und ab wippte. Dazu gab es ein schrilles Zirpen von sich, das ein wenig dem eines Vogels ähnelte, aber doch irgendwie ganz anders war. Etwas Vergleichbares hatte Tavi noch nie gehört, und er bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper.
Einen Augenblick später ging der Hüter wieder an die Arbeit. Kitai wandte sich Tavi sehr langsam zu. Er gab Tavi einen Wink, ganz gemächlich und ohne jede ruckhafte Bewegung. Daraufhin drehte er sich um und ging leise los. Seine Schritte flossen fast so dahin, als würde er tanzen.
Tavi schluckte und folgte Kitai, wobei er darauf achtete, genau in die Fußstapfen des Marat zu treten. Kitai ging voraus, nahe an der Felswand entlang, und Tavi kam hinterher, bis sie mehrere Dutzend Schritte Abstand zu dem Hüter gewonnen hatten. Angesichts dieses Wesens mit seinem bizarren, unirdischen Äußeren sträubten sich ihm die Haare. Als sie außer Sicht waren, verspürte er eine gewisse Erleichterung, und er hielt sich unwillkürlich dicht an Kitai - der andere Junge mochte noch so unterschiedlich sein, dennoch war er ihm näher und freundlicher gesonnen als dieses Spinnenwesen, das die Krähe in leuchtendem Wachs begrub.
Kitai blickte über die Schulter zu Tavi und zog die Augenbrauen hoch. Tavi sah dem Gefährten den beherrschten Schrecken
an. Vermutlich war er auch froh, dass Tavi so nah bei ihm war, und die beiden Jungen nickten sich zu. Es erschien ihm wie ein unausgesprochenes Einverständnis, für das man keine Worte brauchte: Waffenstillstand.
Endlich seufzte Kitai. »Leise«, flüsterte er. »Und immer ganz ruhig. Sie können nur schnelle Bewegungen sehen.«
Tavi flüsterte zurück: »Sind wir
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