Die Elementare von Calderon
seinen Schritt und sprang über eine knorrige Baumwurzel. Vor ihm gab es einen langen, schmalen Spalt in der Felswand. Wasser rann langsam, aber stetig hindurch, Schmelzwasser, das die Wärme des Kroatsch hatte tauen lassen. Unter dem Spalt hatte sich eine große Pfütze gebildet, an einer Stelle, wo das Kroatsch die nackte Erde nicht überwuchert hatte. Dieser kleine Tümpel sah düster aus, und Tavi konnte nicht erkennen, wie tief er war.
»Hier können wir nicht hochklettern, Aleraner«, keuchte Kitai. Ganz aus der Nähe ertönte ein schrilles Kreischen, und Kitai duckte sich.
»Ruhig«, sagte Tavi. »Gib mir das Öl.« Er nahm das Gefäß entgegen und zog den breiten Korken mit den Zähnen heraus, ging ein Stück zurück und stampfte mehrmals kräftig auf den Boden, um die Oberfläche des Wachses aufzubrechen. Wieder trat die schleimige, leuchtende Flüssigkeit hervor.
Das wütende Gekreische um sie herum nahm an Lautstärke zu.
»Was machst du da?«, zischte Kitai, »du verrätst ihnen ja, wo wir sind!«
»Ja«, antwortete Tavi. »Genau.« Er goss das Öl auf das Kroatsch , in die Kuhle, die er mit den Stiefeln gemacht hatte, und holte die Schachtel mit den Feuersteinen hervor. Rasch öffnete er die beiden Fächer, nahm in jede Hand einen der Steine und kniete
sich neben das Öl. Kurz schaute er zu den orangefarbenen Punkten, Dutzenden von Augen, die immer näher kamen. Die Spinnen krabbelten in ihrer seltsam gemächlichen Art über das Kroatsch .
»Was immer das werden soll«, Kitai schrie nun beinahe, »beeil dich!«
Tavi wartete, bis die Augen sich noch mehr genähert hatten. Erst dann beugte er sich zu dem Öl hinunter und schlug die Feuersteine aneinander.
Helle Funken sprühten und fielen in das Öl. Einer von ihnen ertrank nicht in der Flüssigkeit, sondern setzte sie in Brand. Im nächsten Moment loderte eine grelle Flamme auf und schoss in die Höhe.
Der Junge wich zurück, packte Kitai an seinem Gewand und zog ihn zu dem Tümpel. Gemeinsam stiegen sie in das kalte Wasser, und Tavi zerrte Kitai nach unten.
Es war nicht tief, reichte ihnen bis zum Schenkel, aber dafür war es eisig. Tavi und Kitai prusteten. Dann sah der Aleraner nach den Hütern.
Die Wachsspinnen hatte das Feuer zur Raserei gebracht. Die vordersten waren zurückgefallen und huschten in Kreisen umher, wobei sie ihre schrillen Schreie ausstießen. Andere, die weiter hinten waren, wippten verwirrt auf und ab und zirpten hektisch.
Die Jungen im Tümpel schienen sie überhaupt nicht mehr zu bemerken.
»Es hat geklappt«, zischte Tavi. »Schnell, hier.« Er griff in den Rucksack und holte die beiden Decken heraus. Eine gab er Kitai, eine behielt er für sich und tauchte sie in das Wasser. Er legte sie sich über Schultern und Kopf und zitterte heftig wegen der Kälte. »Schnell, deck dich zu.«
Kitai starrte ihn an. »Was machst du da?«, fragte er. »Wir sollten lieber laufen, solange wir noch die Gelegenheit dazu haben.«
»Schnell, deck dich zu.«
»Warum?«
»Ihre Augen«, erklärte Tavi. »Als sie uns so nahe kamen, hat sich ihre Augenfarbe verändert. Sie haben dich gesehen, aber nicht mich.«
»Was meinst du damit?«
»Sie können deine Hitze wahrnehmen«, stammelte Tavi, dessen Lippen wegen der Kälte zitterten. »Die Marat. Ihr fühlt euch immer so an, als hättet ihr Fieber. Ihr seid wärmer. Die Spinnen können das sehen. Als ich das Feuer angezündet habe -«
»Wurden sie geblendet«, sagte Kitai mit großen Augen.
»Deshalb musst du deine Decke ins Wasser tauchen und sie dir umlegen.«
»Schlau«, meinte Kitai, und in seiner Stimme schwang Bewunderung mit. Rasch nahm er sein Gewand aus dem Wasser, damit es nicht noch nasser wurde. Er zog es sich über die Hüften, tauchte die Decke in den Tümpel und hüllte sich genauso hinein wie Tavi.
Plötzlich starrte Tavi den Marat verblüfft an.
»Was denn?«, fragte Kitai.
»Ich kann es nicht glauben«, sagte Tavi. Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, wandte sich von Kitai ab und zog sich die nasse Decke tiefer ins Gesicht. »Oh, bei den Krähen, ich kann es nicht glauben.«
»Was kannst du nicht glauben, Aleraner?«, wollte Kitai wissen.
»Du bist ein Mädchen .«
34
Kitai runzelte die bleiche Stirn. »Was bin ich?«
»Ein Mädchen «, warf ihm Tavi vor.
»Nein«, zischte Kitai. »Ich bin ein Welpe. Bis sie einen Bund schließen, sind alle Maratkinder Welpen. Nachdem ich mich an ein Totem gebunden habe, bin ich ein junges Weibchen. Aber bis
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