Die Elenden von Lódz
sogenannten »Westjuden« eine Anstellung im Gettoarchiv finden und an der Chronik mitarbeiten. Zumindest zwei von ihnen, Oskar Singer und Oskar Rosenfeld, sind bereits etablierte Schriftsteller und Journalisten, sie verfügen über langjährige Erfahrungen im Umgang mit verschiedenen Arten bürokratischer Zensur. Von nun an ist die Chronik weniger durch die Form geprägt, sondern gleicht eher einem kollektiven Tagebuch; verschiedene Gattungen finden Aufnahme und auch kritische Stimmen werden laut (häufig in Form der Satire). Dennoch, dies muss bedacht werden, spiegelte das von den Chronisten auch in der Folge gezeichnete Bild der Ereignisse im Getto im wesentlichen jenes Bild wider, das von Rumkowski sanktioniert wurde.
Der Charakter der Gettochronik, die einerseits die Tradition fortführt und als Zeitzeugnis dient, andererseits als Sprachrohr Rumkowskis fungiert, bringt es mit sich, dass die Schilderung (in Bezug auf die Details) zugleich konkret und exakt, auf höherer Ebene aber auch unzuverlässig als Quelle für das ist, was im Getto tatsächlich geschah.
|645| Ein heutiger Leser der Chronik muss zudem unterscheiden zwischen dem, was die Nachwelt (
heute
) weiß und dem, was die Chronisten (
damals
) lediglich ahnten. Vielleicht wissen wir heute nicht in jeder Hinsicht
mehr
als die damals im Getto Eingesperrten. Doch unser Wissen ist
von anderer Art
: Es hat historische Tiefe und große Klarheit bezüglich der Details, die den im Getto Eingesperrten fehlten.
Bereits im Februar oder März 1942 hatten die Insassen des Gettos unleugbare Beweise dafür, dass die meisten der »Transporte«, die rund um den Jahreswechsel 1941/1942 das Getto verließen, direkt in die Vernichtungslager gingen. Ganz sicher wusste Rumkowski zu einem sehr frühen Zeitpunkt, wenn nicht von Anfang an, dass die Bewohner des Gettos vor seinen Augen ermordet wurden. Doch bei weitem nicht alle wussten Bescheid, und das Fehlen hundertprozentiger Gewissheit schuf diese seltsame Grauzone zwischen Verzweiflung und Hoffnung, die für die gesamte Chronik prägend ist. Obgleich alles dagegen sprach, gab es doch auch jene, die beharrlich daran glaubten, dass ein Leben außerhalb des Gettos möglich sein müsste, irgendwo und irgendwie; und diese Hoffnung, dieser Glaube ans Überleben kennzeichnet die Verfasser der Chronik
trotz allem
bis zum allerletzten Tag. Das zeigt sich auch in dem Bild, das die Chronik bis zuletzt von Chaim Rumkowski zeichnet, jenem Mann, der die Ungewissheit zur Staatsideologie erhoben hatte, um die Vernichtungsmaschinerie der Nazis auch weiterhin ungehindert mit Material versorgen zu können.
Erst im Januar 1944 begannen einige der Chronisten mit dem Versuch, in einer Gettoenzyklopädie die Situation des Gettos zu erfassen. Die Enzyklopädie kann als eine Art Anhang oder Appendix der Chronik betrachtet werden oder, wenn man so will, als erneuter Versuch, die
Gegenwart
des Gettos für die Nachwelt sichtbar zu machen.
Die Gettoenzyklopädie besteht aus kleinen Bibliothekskarten, auf denen eine große Anzahl von Personen und Geschehnissen vermerkt sind, die für das alltägliche Leben im Getto, für dessen Führung und Verwaltung relevant waren. Abgesehen von Erklärungen einiger im Getto gebräuchlicher Wörter und Ausdrücke, sprachlicher Neubildungen und Lehnwörter (die zumeist aus dem Polnischen stammten oder aus |646| der österreichischen Kanzleisprache, die mit den »ausländischen« Juden ins Getto gekommen war), enthält die Enzyklopädie obendrein einige Miniaturbiographien der führenden Männer und Frauen des Gettos. Zu den einflussreichen Personen, die in der Enzyklopädie porträtiert werden, gehören unter anderem Aron Jakubowicz, Leiter des Zentralbüros der Arbeitsressorts im Getto, ebenso wie Dawid Gertler, Leiter der mächtigen Sonderabteilung, und sein Nachfolger Mordka Kligier.
Nicht
jedoch Mordechai Chaim Rumkowski.
Dass ein Eintrag zu Rumkowksi fehlt, kann mehrere Ursachen haben. Entweder hat ein solcher Eintrag nie existiert, was jedoch wenig glaubhaft erscheint – schließlich war Rumkowski der mächtigste Mann des Gettos. Oder das Kärtchen wurde irgendwann entfernt und vernichtet. In diesem Falle ist die Enzyklopädie ein weiterer Beweis für etwas, worauf die Chronik indirekt mehrfach verweist: nämlich, dass die Fiktionalisierung oder vielmehr die
Bearbeitung
der fiktionalisierten Darstellung des Gettos bereits während der deutschen Okkupation begonnen hatte.
Obgleich das meiste, was im
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