Die elfte Geißel
Entfernung und im Morgenlicht wirkte die rote Farbe der Tür weniger grell und spielte ins Blasslila. Der Ort, wo Amandine die Hölle erlebt hatte, strahlte jetzt Heiterkeit aus. Die moderne Fassade und ihre runden Fenster spiegelten sich verzerrt in der schillernden Oberfläche des Schwimmbads wider. Ein sanfter Wind kräuselte die Oberfläche und ließ die Linien und Formen tanzen.
Sie fuhr zusammen, suchte nach einigen angemessenen Worten, aber der sinnträchtige Charakter des Ortes ließ sie verstummen. Sie dachte an den Weg, den sie zurückgelegt hatte, um dieser Fremden zu folgen, in unbekannte Regionen, jenseits ihrer selbst.
Die Silhouette einer Familie, die hinter den großen Glasfenstern am Tisch saß, fesselte ihre Aufmerksamkeit. Sie kniff die Augen zusammen, um die beiden Kinder, die neben ihren Eltern saßen, deutlicher zu erkennen. Die Wonnen des Alltags, auf die sie einen flüchtigen Blick erhaschte, flößten ihr ein unbekanntes Gefühl ein. Schweigend gedachte sie ein paar Sekunden Amandines.
Aber schon musste sie an die Jagd denken, die sich abzeichnete. Die Jagd nach dem Mörder von Alice. Ihrem Versetzungsgesuch war stattgegeben worden. Die Kommissarin der OCLCTIC hatte sie in der Dienststelle in Nanterre herzlich willkommen geheißen, und die Mordkommission würde ihr nicht fehlen. Sie spürte frische Energie in ihren Adern.
Ein Schatten blieb jedoch. Ein weiteres Mal beobachtete sie die Familie, die sich zu Tisch gesetzt hatte, und dachte an Paul. Eine Mischung aus Neid und Traurigkeit übermannte sie. Sie beneidete das Paar um die schlichte Freude, die sie miteinander teilten und die ihr versagt bleiben würde.
Sie wollte eine Zukunft, einen Horizont fixieren. Aber der Horizont, den sie suchte, lag hinter ihr. Sie hatte ihn überschritten, ohne ihn zu sehen, und derjenige, der jetzt zu erkennen war, war nur ein Einschnitt in der Ferne, zwischen Himmel und Erde.
Eine letzte Sache blieb zu tun, ein letzter Besuch, die letzte Ehre, die es jemandem zu erweisen galt.
Blandine ging über den mit Grabsteinen gespickten Friedhof, eine graue Einöde, die von bunten Blumen aufgebrochen wurde. Das helle Tageslicht betonte die Winkel, die Kreuze, die chaotische Anordnung der Gräber, und der wie mit Aquarellfarben gemalte Himmel erfüllte die Atmosphäre mit einer bittersüßen Melancholie.
In der Nähe eines ausgehobenen Grabes, unter einer riesigen Trikolore, hatten etwa zwanzig Polizisten in Paradeuniform die Augen auf den dunklen Holzsarg gerichtet, in dem die sterblichen Überreste von Paul Garcia ruhten. Blandine trat zu ihren Kollegen, die ihre Trauer und ihren Kummer zu teilen schienen, und sprach aus Aberglauben ein Gebet ohne Adressat für die ewige Ruhe des Vaters ihres Kindes. Sie wagte es nicht, zu seinen Angehörigen zu gehen. Der gebrochene alte Mann, der seinen toten Sohn beweinte, hielt eine winzige Rose in seinen Fingern, eine Knospe von zartem Weiß, und er legte sie, ohne die Zeremonie abzuwarten, auf das Eichenholz. Sie nickte ihm zu, doch er hatte keine Augen für sie, und sie überraschte sich bei dem Gedanken, dass dieser alte Mann keinerlei Ähnlichkeit mit Paul hatte.
Seltsamerweise erleichterte sie dieser Eindruck und vermittelte ihr das vage Gefühl, an der Beisetzung eines Unbekannten teilzunehmen. Kummer und Trauer waren da, frische Wunden, aber ein unbewusster Mechanismus verhinderte, dass sie den Menschen in dem Sarg als einen Teil von sich erlebte. Das, was sie an Paul geliebt hatte, überlebte und wuchs in ihrem Bauch.
Der Priester begann mit seiner Grabrede, die Worte des Requiems klangen allerdings hohl. Anschließend sprach der Leiter der Mordkommission, der die Tugenden, den Mut und die Kameradschaftlichkeit des Offiziers Garcia rühmte.
Als der Sarg in der Grube verschwand, warf Blandine eine Rose auf die Erinnerung ihrer Liebe, und sie hatte das deutliche Gefühl, dass ihrer beider Herzen im gleichen Takt schlugen.
DANKSAGUNG
Ich möchte Alain und Martine für ihre unerschütterliche Unterstützung danken; Stéphanie und Karim Berrada, Nicholas Petiot, Stéphanie Condis und Aurélie Larribère für ihr Vertrauen und ihre Ermunterung; Éloïse, dem Polarstern, der mich auf Kurs hielt.
Mein besonderer Dank gilt Roxane Duru, der Literatur-Koryphäe, sowie Arnaud Gonzague, meinem lieben Freund und einzigartigen Lektor, der mir wertvolle Anregungen gegeben hat.
Ebenfalls danken möchte ich Françoise Chaffanel-Ferrand für unsere Begegnung und dafür, dass
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