Die elfte Geißel
Atlantikküste flirrte im Altweibersommer. Es herrschte eine dunstgesättigte Atmosphäre, in der die schroffen Kurven der Dünen und die weicheren Linien der bewegten See miteinander verschmolzen. Große Möwen segelten dicht über den Wellen, wobei sie akrobatische Kunststücke in der Luft vollführten, und Kinder spielten schreiend mit der Gischt – ihr Gelächter wurde durch den schweren Rhythmus der Brandung gedämpft. In der Ferne schrumpfte Biarritz, die weiß schimmernde Stadt, unter der senkrecht stehenden Sonne zu einem Lichtpunkt auf blauem Hintergrund.
Alain Broissard ließ sich auf dem Sand nieder und betrachtete den Ozean, er atmete mit vollen Zügen die Jod- und Salzdämpfe ein, die der Wasserstaub mit sich führte. Zehn Meter von ihm entfernt schien eine Frau den gleichen Träumereien nachzuhängen. Ihr feuerroter Bikini schmiegte sich an die grazilen Rundungen ihrer Brüste und unterstrich ihre gazellenartige Schönheit. Der Mann neben ihr, zweifellos ihr Ehemann, streichelte ihren Arm, wobei er unwissentlich der Melodie der Wellen folgte. Broissard nahm die Geste in sich auf, er erahnte die Erregung und das Prickeln, das die Liebkosung in ihrem Körper hervorrief. Wie ein Vampir sog er die Partikel von Glück und Zärtlichkeit ein, welche die sanfte Brise zu ihm hintrug. Das Pärchen war nicht mehr ganz jung, aber das Leben hatte, wie es Broissard schien, keine sichtbaren Spuren – erst recht keine Narben – bei ihnen hinterlassen. Und auch keine Schwere.
Sein Herz schlug heftiger, als sich ein junger Mann und seine Freundin, beide braungebrannt, mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen zu dem Pärchen gesellten und sich neben ihm ausstreckten. Er hörte sie sprechen, lachen, sich vergnügen und wartete mit ihnen auf den Sonnenuntergang – schon war das Meer glutrot gefärbt, hie und da durchzuckt von grünen Hoffnungsschimmern. Er lächelte, als er an die Abfolge der Generationen dachte, von der er jetzt ausgeschlossen war. Schließlich ließ er das Gemälde mit den fauvistischen Farbtönen hinter sich.
Auf dem Parkplatz, der sich allmählich leerte, warf er einen letzten Blick auf das Azurblau, das der Abendröte wich, und schaute dann auf seine Uhr. Er würde die spanische Grenze mitten in der Nacht überqueren und dann über Marokko und Mauretanien in den Senegal fahren. Die würzigen Düfte Afrikas, seine bunten Farben, die Anonymität und der Gedanke an einen möglichen Neuanfang lockten ihn.
»Noch immer auf der Flucht, was ich so sehe«, sagte eine Stimme in seinem Rücken.
Überrascht drehte er sich um und lächelte der Erscheinung zu. Die Frau im roten Bikini und mit umgebundenem Hüfttuch vor ihm war von strahlender Schönheit. Die Jahre waren an ihr spurlos vorbeigegangen.
»Ich habe gedacht, du hättest mich nicht gesehen«, antwortete er.
Sie schaute ihn neugierig an, aber auf dem Grund ihrer Augen funkelte etwas Hartes, Bitteres, das ihm zu verstehen gab, dass sie das Geschehene nicht vergessen hatte.
»Tatiana, ich ... ich wollte dir sagen, dass ich fortgehe.«
»Das hast du schon vor über zwanzig Jahren getan«, flüsterte sie sanftmütig. »Lüg nicht, Alain. Das ist zwecklos. Sag mir lieber, warum du gekommen bist.«
»Ich bin seinetwegen gekommen. Ich wollte meinen Sohn sehen. Wenigstens einmal, bevor ich verschwinde.«
»Willst du mit Adrien sprechen?«
»Nein, richte ihm einfach Grüße von einem alten Freund aus.«
Sie umarmten sich mit der plumpen Zärtlichkeit ehemaliger Geliebter. Ohne sich mit Worten Lebewohl zu sagen. Broissard stieg in seinen Wagen und drückte das Gaspedal durch – er nahm Kurs auf die große unbekannte Welt, seine Zukunft lag zum ersten Mal vor ihm, ein winziges Funkeln, das größer wurde, dort, am Ende der Straße.
»Adrien, Adrien«, wiederholte er, als wäre es das erste Wort, das er jemals ausgesprochen hatte.
86
Marne-la-Vallée,
Haus mit der roten Tür,
Mordkommission
Der Wagen raste mit Vollgas über die leer gefegten Straßen. Das verblassende Mondlicht wich der Morgendämmerung. Ein schmales rosafarbenes Band lag über dem Horizont und schwächte sich in der Dunkelheit ab. Blandine bog in die Landstraße ein und drang weiter in den Pariser Vorortgürtel vor.
An ihrem Ziel angekommen, stellte sie den Wagen am Straßenrand ab und ging bis zu einem Feld, das von Raureif überzogen war. Sie lehnte sich gegen den Zaun und betrachtete die Eingangstür eines Hauses, das etwa fünfzig Meter entfernt war. In dieser
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