Die elfte Geißel
die Gänge und konnte es kaum erwarten, das Tageslicht wiederzusehen, weit weg von den Tritten und Schlägen, die weiterhin auf den Kommissar hagelten, der bald nur noch eine leblose Puppe sein würde.
Ein eiskalter Nordwind. Ein verhangener Himmel mit grellen Farben, von Mintgrün bis Hellblau. Die Luft unter freiem Himmel war jedoch nicht erfrischend, sondern gesättigt von stechenden Rauchschwaden und heißer Asche. Der Wind blies über die Champs-Élysées, auf der Demonstranten lauthals protestierten, und lud sich weiter unten, Richtung Place de la Concorde, mit dem starken Duft der Seine auf.
Nicht ganz bei sich, folgte die fliehende Blandine den Polizeisirenen, die in den Straßen heulten, in denen das gemeine Verbrechen, die Revolte und blanke Mordlust regierten. Sie folgte dem Echo der Krankenwagen, die Verletzte und Tote vom Schlachtfeld entfernten. Sie folgte der wütenden Wehklage, der zornigen Agonie der Stadt des Lichts. Und Paris, der Krake, das wunderschöne Monster, Paris, die Geschundene, schrie herzzerreißend.
82
Paris,
Cybercafé,
Sondereinheit/OCLCTIC
Neun Minuten und einunddreißig Sekunden.
Die Nervenzellen in Léos Gehirn feuerten schneller. Die Warnung von Clarisse Katz erwies sich als begründet.
Noch neun Minuten und fünfundzwanzig Sekunden, bis die Kinder auftraten.
»Hallo! Kommissarin Dussaud? Hermon am Apparat.«
»Wo sind Sie denn? Wir suchen Sie schon seit Stunden!«
»Ich habe jetzt keine Zeit, es Ihnen zu erklären. Wir haben etwas gefunden. Es ist höchste Eile geboten.«
Zoé quetschte den Hörer an ihren Mund, um die Adresse der Website zu diktieren. Sie hörte klar und deutlich, wie die Kommissarin vor Schreck aufschrie.
»Benachrichtigen Sie die Dienststellen der Gendarmerie. Sie müssen sich bereithalten, um loszuschlagen, sobald Léopold die IP-Adresse der LiveCam lokalisiert hat.«
»Glauben Sie, dass er das hinkriegt?«
Sie legte auf und ließ die Frage in der Schwebe. Ein Ja wäre ihr zu teuer zu stehen gekommen.
Mit der Hand verjagte Léo die umherwirbelnden Gespenster, die Kindergesichter, auf denen das Lächeln gefror. Der Countdown ließ ihn wieder klar denken. Er schielte, damit die Vertikalen und die Horizontalen wieder im rechten Winkel zueinander verliefen.
Die erste Software, die er verschickte, hatte den gewünschten Effekt. Der Computer aktivierte seine Firewall. Der Trojaner begann ein Loch in die digitale Schutzmauer zu bohren und löste eine Kettenreaktion des Antivirenprogramms aus. Jetzt startete Léo den zweiten Angriff. Der Trojaner drang problemlos ein und begann sofort, Schranken zu errichten, mit der Folge, dass er ohne vollständige Wiederherstellung des Systems nicht entfernt werden konnte. Léo begann mit der Unterwanderungsarbeit, indem er nacheinander die Firewall und die Säuberungsprogramme neutralisierte und so das Abwehrsystem des angegriffenen Computers lahmlegte. Er leitete das Virus zu der IP-Adresse und zur Quelle der Übertragung des Internet-Signals, seinen Spuren im Labyrinth des Netzes folgend.
Null Minuten und null Sekunden.
Die Gespenster schrien lauter. Der Bildschirm der LiveCam wurde hell und enthüllte ein großes Zimmer mit grauen Wänden. Girlanden in allen Farben. Schwarze Bettlaken aus Satin. Schimmelspuren.
Zoé und er hörten auf zu atmen. Sie hatten den Verbindungspunkt erreicht, die Stelle, wo die virtuelle Realität und die physische Realität aufeinandertrafen.
Vier maskierte Männer kamen ins Bild.
Zoé klammerte sich an das, was sie gelernt hatte, und wandte die Regel wortwörtlich an, aber das Zucken der Adern an ihrem Hals verriet panische Angst.
Léo vernahm nur ein fernes Murmeln, sein Blick auf den Anzeiger der Internet-Übertragungsrate geheftet, in der Erwartung, dass sie sich stabilisierte. Der angegriffene Rechner war ihm jetzt schutzlos ausgeliefert. Er musste ihn nur noch physisch lokalisieren, indem er der Verbindungsspur bis zu ihrem Ursprung folgte.
IP-Sortierung aktiviert. WINS-Proxy aktiviert. InterNIC. Default-Gateway. Subnetzmaske. Anzahl der versandten Datenpakete. Verbindungsgeschwindigkeit. Anzahl der empfangenen Datenpakete.
Zwei weitere Männer kamen ins Bild, sie trieben die Kinder vor sich her und zwangen sie, sich auf die Matratzen zu legen.
Léo wurde übel. Die Schluchzer und das Wehgeschrei wurden lauter.
Er sah Kinder auf Knien, die von Bestien aufs Schändlichste, Entwürdigendste misshandelt wurden.
Die Übertragungsrate sank und stabilisierte sich.
Sofort
Weitere Kostenlose Bücher