Die Enden der Parabel
den Pflasterfugen, den Falten des Hundes mit den tellergroßen Augen vor dem Rathaus, den Barthaaren der Ziege auf der Brücke, dem Mund des Trolls darunter. Frieda, die Sau, ist auf der Suche nach einem neuen, windgeschützten Platz, wo sie sich hinlegen und dösen kann. Die Gipshexe, der man durch die Brüste und die Lenden bis auf das Drahtgeflecht blicken kann, lehnt neben dem Ofen und hält für immer inne, den lädierten Hansel zu packen. Gretels Augen sind weit aufgerissen, ohne je zu blinzeln, nur die kristallbeschwerten Wimpern flattern vor der Landung des Gueriliawinds von See.
Wenn es Musik gibt hierfür, dann windzerzauste Streicher und Bläser, mit strahlenden Hemdbrüsten und schwarzen Bindern aufgereiht über die Länge des Strands, ein Organist im Mantel draußen bei den Wellenbrechern - die selbst gebrochen sind, verkrustet von den Fluten -, dessen Zungen- und Lippenpfeifen den tönenden Spuk zusammenfassen, eine Form abgeben für die kerzenflammigen Erinnerungen, ganz Spur, Teilchen und Welle, an die Sechzigtausend, die hier vorbeigezogen sind, ein-oder zweimal, schon vorgemerkt auf der Liste, um genommen zu werden. Hast du jemals deine Sommerfrische in Zwölfkinder verbracht? Hast du die Hand deines Vaters gehalten, während ihr im Zug von Lübeck herauffuhrt, hast du auf deine Knie gestarrt oder auf die anderen Kinder, bezopft, gebügelt, nach Bleiche riechend, nach Schuhwichse und Karamellen, so wie du? Hat Kleingeld in deinem Portemonnaie geklingelt, wenn das
Rad mit dir herumschwang, und hast du dein Gesicht in seine wollenen Rockaufschläge geborgen oder dich auf den Sitz gekniet und versucht, über das Wasser bis nach Dänemark zu blicken? Hast du dich gefürchtet, wenn der Zwerg versuchte, dich zu umarmen? War dein Kleid kratzig in der Wärme des Nachmittags? Was hast du gesagt, was hast du gefühlt, wenn Jungen an dir vorbeirannten, einander die Mützen vom Kopf stießen und viel zu beschäftigt waren für dich? Sie muß ein Kind gewesen sein, das schon immer auf irgend jemandes Liste stand. Er hat nur stets vermieden, darüber nachzudenken. Doch all die Zeit trug sie ihr eigenes Verschwinden in ihrem verschlossenen Gesicht, ihrem zögernden Gang, und hätte er ihres Schutzes nicht so sehr bedurft, wäre ihm vielleicht rechtzeitig aufgegangen, wie wenig sie tatsächlich in der Lage war, irgend etwas zu beschützen, und sei es nur ihr eigenes, elendes Nest. Er konnte nicht mit ihr reden - es wäre eine Diskussion mit dem Gespenst seines Ichs von vor zehn Jahren gewesen, der gleiche Idealismus, die gleiche Wut des Erwachsenwerdens - alles Dinge, die ihn einst bezaubert hatten - eine Frau mit Geist! -, die ihm aber jetzt als Beweis ihrer Rücksichtslosigkeit erschienen, ja sogar, er hätte es schwören können, eines Wunsches nach Vernichtung...
Jedesmal, wenn sie zu ihrem Straßentheater ging, erwartete sie insgeheim, nicht mehr zurückzukommen, doch er wußte nie wirklich davon. Linke und Juden auf der Straße, schön und gut, das war zwar lärmend und kein schöner Anblick, aber doch etwas, das die Polizei kanalisieren konnte, bei dem sie nicht in Gefahr geraten würde, wenn sie es nicht selbst darauf anlegte... Später, nachdem sie ihn verlassen hatte, betrank er sich an einem Vormittag, wurde sentimental und ging endlich selbst hinaus, zum ersten- und zum letztenmal und in der Hoffnung, daß der Druck des Schicksals oder der Hydrodynamik der Massen sie vielleicht wieder zusammenführen würde. Er fand die Straße voll von gelbbraunen oder grünen Uniformen, Knüppeln, Leder, Spruchbändern, die in jeder Richtung flatterten außer der horizontalen, Mengen von Zivilisten in heller Panik. Ein Polizist schlug mit dem Knüppel nach ihm, doch Pökler duckte sich und es traf statt seiner einen alten Mann, irgendeinen bärtigen, unbelehrbaren Kauz von einem Trotzkisten... Er sah die Windungen des Stahlkabels unter der schwarzen Gummihaut, das affektierte Lächeln auf dem Gesicht des Polizisten, während er ausholte und mit der freien Hand in einer femininen Geste nach seinem gegenüberliegenden Uniformaufschlag faßte, den Lederhandschuh, der den Knüppel führte, aufgeknöpft am Gelenk, und die Augen, die zugekniffen wurden, als der Knüppel traf, so als teilte er des Polizisten Nerven und könnte selbst verletzt werden am Schädeldach des alten Mannes. Pökler rettete sich in einen Hauseingang, krank vor Angst. Andere Polizisten kamen herbeigerannt, wie manche Tänzer laufen, die Ellbogen
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