Die Enden der Parabel
Pfeilstabilität und der Brennstoffdurchmischung begannen in ihn einzudringen und die Stelle zu besetzen, die Leni verlassen hatte. Es gab Tannen-und Kiefernwälder, morgens vor den Fenstern, statt seines sorgenerfüllten Großstadt-Hinterhofs. War er im Begriff, der Welt zu entsagen und einem mönchischen Orden beizutreten?
Eines Nachts steckte er zwanzig Seiten von Berechnungen in Brand. Integralzeichen wiegten sich wie hypnotisierte Kobras, komische, schnörkelige ds marschierten wie Buckelzwerge
durch den Rand des Feuers hinüber in die Ascheflocken. Aber das blieb sein einziger Rückfall.
Zuerst half er bei der Triebwerksgruppe aus. Noch war niemand daran interessiert, sich zu spezialisieren. Das kam später, als Büros und Paranoias Einzug hielten und die Organisationspläne zu Aufrissen von Gefängniszellen wurden. Kurt Mondaugen, dessen Gebiet die Funktechnik war, konnte genausogut mit Lösungen für Kühlprobleme aufwarten. Pökler konstruierte unversehens ein verbessertes System zur Messung von lokalen Drücken, das ihm später in Peenemünde zustatten kam, als sie oft mehr als hundert Meßsonden an einem Windkanalmodell von nur vier bis fünf Zentimetern Durchmesser anzubringen hatten. Er half mit, die Lösung mit den Halbmodellen einsatzreif zu machen, bei der das Modell in der Längsachse halbiert und mit der Schnittfläche an die Wandung der Testkammer angelegt wurde. Auf diese Weise konnte man die Meßsonden direkt durch die Wand zu den Manometern führen. Ein Berliner Slumbewohner, so sagte er sich, war es gewohnt, in halben Rationen zu denken... doch das war ein seltener Augenblick des Stolzes. Keiner konnte die Urheberschaft einer Idee zu hundert Prozent für sich beanspruchen. Es war eine korporative Intelligenz am Werk, für die Spezialisierung wenig, Klassenzugehörigkeit überhaupt keine Bedeutung hatte. Das soziale Spektrum reichte von preußischen Aristokraten wie von Braun bis hinunter zu Leuten wie Pökler, die einen Apfel auf der Straße essen würden -doch alle waren sie gleichermaßen der Gnade der Rakete ausgeliefert: nicht nur dem Risiko von Explosionen und stürzendem Metall, sondern auch ihrer Stummheit, ihrem eigensinnigen und augenfälligen Geheimnis ...
Anfangs ging der größte Teil der Gelder und der Energie in die Entwicklung eines Triebwerks. Die erste Aufgabe hieß einfach, etwas in die Luft zu kriegen, ohne daß es dabei explodierte. Es kam zu kleineren Unglücksfällen - Raketenöfen aus Aluminium brannten durch, manche Einspritzdüsen erzeugten Schwingungen bei der Verbrennung, die sich aufschaukelten, bis sich das
Triebwerk selbst in Stücke schrie - und dann, im Jahr 1934, zu einem großen. Dr. Wahmke beschloß, Wasserstoffsuperoxyd und Spiritus schon vor der Einspritzung in die Brennkammer zu mischen, um zu sehen, was passieren würde. Die Zündflamme schlug durch die Speiseleitung in den Mischtank zurück. Die Explosion zerstörte den Prüfstand und tötete Dr. Wahmke und zwei seiner Mitarbeiter. Erstes Blut, erste Opfer.
Kurt Mondaugen nahm es als ein Zeichen. Einer jener deutschen Mystiker, die mit Hermann Hesse, Stefan George und Richard Wilhelm groß geworden waren, bereit, Hitler auf der Basis einer Demian-Metaphysik zu akzeptieren, schien er Brennstoff und Oxydator als komplementäres Paar zu begreifen, als männliches und weibliches Prinzip, die sich im mystischen Ei des Verbrennungsraums vereinten: Schöpfung und Zerstörung, Feuer und Wasser, chemisches Plus und chemisches Minus -"Valenzen", protestierte Pökler, "ein Zustand der äußeren Schalen, weiter nichts." "Denk darüber nach", sagte Mondaugen.
Da war auch Fahringer, ein Aerodynamiker, der mit einem Zen-Bogen und einer Rolle aus gepreßtem Stroh in die Kiefernwälder um Peenemünde hinausging, um Atemübungen zu machen, Anspannung und Lösung, immer wieder. Das wirkte ziemlich rücksichtslos zu einem Zeitpunkt, als seine Kollegen von etwas, das sie "Folgsamkeitsfaktor" nannten, beinahe in den Wahnsinn getrieben wurden. Es ging um das Problem, die Längsachse der Rakete in jeder Flugphase in die Lage der Tangente an die Bahnkurve zu bringen. Für diesen Fahringer war die Rakete ein fetter japanischer Pfeil. Man mußte eins werden mit der Rakete, ihrer Flugbahn und dem Ziel - "nicht durch einen Willensakt, sondern durch Selbstaufgabe, indem man aus der Rolle des Raketenschützen heraustritt. Der Akt ist unteilbar. Man ist beides zugleich, Aggressor und Opfer, Rakete und Parabel und -" Pökler
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