Die Enden der Parabel
bauen, was die Militärs verlangten - einsatzfähiges Gerät -, oder in chronischer Geldknappheit weiterzuwerkeln und dabei von Expeditionen zur Venus zu träumen. "Woher, glaubst du, daß die Armee das Geld hat ?" fragte Leni. "Was macht das schon? Geld ist Geld." "Nein!"
Major Weißmann war eine der grauen Eminenzen auf dem Raketenflugplatz. Er besaß die Fähigkeit, sich mit jedem wünschenswerten Anschein von Sympathie oder kühler Vernunft auf organisierte Denker und manische Idealisten gleichermaßen einzustellen. Jedem das Seine, ein brandneuer Typ von Militär, halb Geschäftsmann und halb Wissenschaftler. Pökler, der alles Sehende und nie sich Engagierende, mußte gewußt haben, daß in den Ausschußsitzungen des VfR das gleiche Spiel gespielt wurde
wie auf Lenis gewaltsamer und zufluchtsloser Straße. Seine ganze Ausbildung hatte ihm den Blick für Analogien geschult - bei Gleichungen, in theoretischen Modellen -, und doch bestand er hartnäckig auf seinem Glauben, daß der VfR etwas Besonderes wäre, herausgehoben aus der Zeit. Auch wußte er aus erster Hand, was aus Träumen wird, denen kein Geld unter die Arme greift. So erkannte Pökler schnell, daß er, indem er keine klare Position bezog, zu Weißmanns bestem Verbündeten geworden war. Der Ausdruck in den Augen des Majors veränderte sich, wenn er Pökler sah: seine leicht gouvernantenhafte Miene entspannte sich zu etwas, das Pökler, bei zufälligen Blicken in Spiegel oder Fenster, auf seinem eigenen Gesicht bemerkt hatte, wenn Leni bei ihm war: dem leeren Gesichtsausdruck eines Menschen, der sich eines anderen völlig sicher ist. Weißmann war sich so sicher über Pöklers Rolle wie jener über die von Leni. Und doch war Leni schließlich gegangen. Vielleicht hatte es Pökler an einem vergleichbaren Willen gefehlt. Er selbst hielt sich für einen Mann der Praxis. Auf dem Versuchsgelände sprachen sie von Kontinenten, Zangenbewegungen - sahen Jahre vor dem Generalstab die Notwendigkeit einer Waffe, die die Bündnisse zu brechen, wie der Springer eines Schachspiels über Panzer, Bodentruppen, Flugzeuge hinwegzufliegen vermochte. Plutokratische Nationen im Westen, kommunistische im Osten. Räume, Modelle, strategische Planspiele. Nicht viel von Leidenschaft oder Ideologie. Männer der Praxis. Während die Militärs in Siegen schwelgten, die noch nicht errungen waren, mußten die Raketenkonstrukteure unfanatisch denken, an deutsche Rückschläge, deutsche Niederlagen, die Aufreibung der Luftwaffe, ihren Kräfteverschleiß, die Zurücknahme der Fronten, die Notwendigkeit von Waffen mit größeren Reichweiten ... Aber andere hatten die Mittel und erteilten die Befehle und versuchten, ihre Lüste und Streitereien auf etwas zu projizieren, das seine eigene Vitalität besaß, auf eine Technologie, die sie nie auch nur im Ansatz verstehen würden. Solange sich die Rakete im Forschungs- und Entwicklungsstadium befand, gab es für sie keine Notwendigkeit, an das A 4 zu glauben. Später, als es zum Einsatz kam, als sie sich plötzlich einer leibhaftig existierenden Rakete konfrontiert sahen, sollten die Machtkämpfe erst wirklich beginnen. Pökler sah das voraus. Sie waren athletische, hirnlose Männer ohne Weitblick, ohne Phantasie. Aber sie hatten Macht, und es fiel ihm schwer, sie nicht für überlegen zu halten, selbst wenn er sie gleichzeitig in gewisser Weise verachtete.
Aber Leni hatte unrecht: Keiner benutzte ihn. Pökler war ein Teil der Rakete, schon lange bevor sie überhaupt gebaut war. Leni hatte dafür gesorgt. Als sie ihn verließ, fiel er auseinander. Fragmente, verstreut in Hinterhof und Rinnstein, verweht vom Wind. Er konnte nicht einmal ins Kino gehen. Nur selten ging er nach der Arbeit noch hinaus, um zu versuchen, Kohlenstücke aus der Spree zu fischen. Er trank sein Bier und saß in seinem kalten Zimmer, wo ihn das Herbstlicht ausgelaugt und blaß von grauen Wolken, Mauern, Abflußrohren und den fettigdunklen Stores erreichte, von aller Hoffnung ausgeblutet, wenn es endlich zu der Stelle fand, wo er zitternd saß und weinte. Er weinte jeden Tag, zu irgendeiner Stunde jedes Tages, einen Monat lang, bis er eine Nebenhöhlenentzündung hatte. Er legte sich ins Bett und schwitzte das Fieber aus. Dann zog er nach Kummersdorf, außerhalb von Berlin, um seinem Freund Kurt Mondaugen auf dem neuen Raketentestgelände, der Versuchsstelle West, zu helfen.
Temperaturen, Geschwindigkeiten, Drücke, Flossen- und Rumpfkonfigurationen, Fragen der
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