Die Enden der Parabel
seinen Waden und Knöcheln, Schulterblätter, die sich jedesmal wie Flügel heben, wenn sie ihn umarmt. Was ist vorhin geschehen? Slothrop hat ein Gefühl, als ob er gleich weinen könnte.
Sie haben einander festgehalten. Sie hat davon geredet, ein Versteck zu suchen. "Sicher. Aber zuerst müssen wir hier mal runter, in Swine-münde, irgendwo." "Nein. Wir können richtig fliehen. Ich bin ein Kind. Ich weiß, wie man sich versteckt. Ich kann auch dich verstecken."
Er weiß, daß sie's kann. Er weiß es. Genau hier, genau jetzt, existiert sie, unter dem Make-up und der Reizwäsche, sind Liebe, Unsichtbarkeit ... Für Slothrop eine ziemliche Entdeckung. .
Doch ihre Arme um seinen Nacken ziehen sich zusammen, enger, ängstlich. Aus gutem Grund. Gewiß wird er für eine Weile bleiben, aber endlich wird er gehn, und dafür wird man ihn denn doch zu den Verlorenen der Zone zählen. Der Stab des Papstes wird verdorrt bleiben, für immer öde wie Slothrops eigener, unfruchtbarer Schwanz.
So spart er nicht an Aufwand, als er sich jetzt von ihr trennt. Er schafft eine Bürokratie des Abschieds, stempelt Ausreisevisa mit seinen Zähnen auf ihre Haut, impft gegen das Vergessen ... doch er selbst denkt bereits nicht mehr daran, zurückzukommen. Während er sich seine Fliege bindet, die Satinaufschläge des Jacketts abklopft, die Hosen zuknöpft, die Uniform des Tages wieder anlegt, wendet er ihr den Rücken zu. Dann über die Leiter nach oben - die letzte Berührung ihrer Blicke liegt schon hinter ihm...
Allein, kniend auf dem gestrichenen Stahl, weiß sie wie ihre Mutter, daß das Grauen kommen wird, wenn der Nachmittag
am hellsten ist. Und wie Margherita sieht auch sie ihre schlimmsten Visionen in Schwarzweiß. Mit jedem Tag fühlt sie sich näher an einer Grenze. Immer wieder träumt sie von derselben Reise: einer Eisenbahnfahrt zwischen zwei bekannten Städten, beleuchtet durch die gleichen perlmuttfarbenen Schleier, die man im Film verwendet, um Regen vor den Fenstern vorzutäuschen. In einem Pullmanwagen, ihre Geschichte diktierend. Sie fühlt sich endlich fähig, von einem persönlichen Grauen zu berichten, so offen, daß auch andere es nachvollziehen können. Vielleicht wird es sie davor bewahren, über jene Grenze gezogen zu werden, hinüber in das silbersalzige Dunkel, das sich schwer und langsam um die Flanke ihres Bewußtseins schließt ... Als sie ihren Pony wachsen ließ, erschienen ihr die eigenen, ungewohnten Haare in dunklen Zimmern in den Augenwinkeln wie ein Phantom ... In den Ruinen ihrer Türme schlagen jetzt die Glocken leise im Wind. Ausgefranste Seile baumeln oder klatschen lose, wo keine ihrer braunen Kapuzen mehr über den Stein huscht. Sogar den Staub hält ihr Wind fern. Das Licht des Tages ist alt: spät und kühl. Das Grauen in der hellsten Stunde des Nachmittags ... die Segel auf dem Meer zu klein und fern, um gelten zu können... das Wasser zu stählern und zu kalt... Ihr Blick jetzt - dieses Gefangensein, das sich vertieft - hat Slothrops sehendes Herz bereits gebrochen: hat's gebrochen und wieder zerbrochen, immer der gleiche Blick, der sich wendete, als er vorbeifuhr, und abglitt in die Dämmerung von Moos und Hausverfall, von hageren Zapfsäulen mit blinden Schaugläsern, blechernen Moxiereklamen, so enzianblau und bittersüß wie der Geschmack, den sie auf die verwitterten Scheunenwände schreien mußten, wie oft zum letztenmal im Rückspiegel gesucht, zu tief gefangen, alle, in Metall und Zündung, zu viel der Wirklichkeit den Tageszielen reservierend statt all dem anderen, das ein Zufall, das Murphys Gesetz bringen und worin Erlösung liegen konnte ... Verloren, stets von neuem, in der Weiterfahrt, vorbei am armen Becket, ersoffen nach dem Dammbruch, an braungefurchten Hügeln, Heurechen, die durch den Nachmittag rosteten, der Himmel purpurgrau und dunkel wie ausgekauter Gummi, mit weißen Gedankenstrichen, die der Regen in die Luft zu schreiben begann, einen halben, einen ganzen Zentimeter auf die Erde zu ... einmal, noch heute erinnert er sich daran, natürlich, einmal hat sie ihn angesehen, vom entfernten Ende einer Theke in einer Imbißbude aus, an deren Scheiben sich der Grillrauch niederschlug, geduldig wie Schuhwichse gegen den Regen für die karierte, geschwätzige Handvoll, die mit runden Rücken am Tresen saß - ein kurzes Zwinkern von der Jukebox her, zum Blöken einer Posaune, einer Saxophongruppe, die ihre Swingnoten präzise zwischen die Schläge hineinsetzten, ein
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