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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Wicken, Mandelblüte, Fingerhut. Morituri begann, sich auf diese täglichen Begegnungen zu freuen. Seine Familie, Frau und Töchter, einen halben Globus weit entfernt, er selbst wie exiliert in einem Land, das ihn verwirrte und einschüchterte. Er war angewiesen auf die Höflichkeit der Zoobesucher, die ihm begegneten, die Worte aus dem Reiseführer. Er weiß, daß er zurückstarrte, ebenso neugierig. In ihrem europäischen Schliff faszinierten sie ihn alle: die weißbefederten alten Damen in den Liegestühlen, die Veteranen aus dem Weltkrieg, die sich wie heitere Flußpferde in den Wannenbädern wälzten, ihre weibischen Sekretäre, die sich unterdessen schrill wie Affen über die Sprudelstraße hinweg unterhielten, während von weit unten, vom Ende des Laubengangs aus Linden und Kastanien, das endlose Rauschen des Kohlendioxyds in der blubbernden Quelle zu hören war, wo es in großen, zitternden
    Blasen aus der Lösung aufstieg ... doch Sigmund und Margherita faszinierten ihn am meisten. "Sie wirkten ebenso fremd hier, wie ich selbst es war. Wir alle haben doch Antennen, nicht, um unsresgleichen zu erkennen..."
    Eines Vormittags, durch Zufall, traf er Sigmund allein, eine Tweed-Statue vor dem Inhalatorium, auf seinen Spazierstock gestützt, mit einem Blick, als habe er sich verlaufen und wüßte nicht, wohin er sollte oder wollte. Ohne nachzudenken, begannen sie, sich zu unterhalten. Der Zeitpunkt war gut getroffen. Gemeinsam zogen sie los, schlenderten durch die Scharen von kranken Fremden, Sigmund erzählte von seinen Problemen mit Margherita, von ihrem jüdischen Tick, ihren Abwesenheiten. Am Tag zuvor hatte er sie bei einer Lüge ertappt. Sie war sehr spät zurückgekommen. Ihre Hände durchlief ein leichtes Zittern, das nicht zur Ruhe kommen wollte. Er hatte begonnen, auf Kleinigkeiten zu achten. Ihre Schuhe waren bespritzt mit trocknendem schwarzem Schlamm. Eine Naht ihres Kleides war geweitet, fast aufgerissen, obwohl sie abgenommen hatte. Aber dann hatte es ihm an Mut gefehlt, sie zur Rede zu stellen.
    Morituri, der die Zeitungen gelesen hatte, für den die Zusammenhänge gleich einem Ungeheuer aus dem zahmen Sprudeln der Trinkhalle herausgesprungen waren, der aber keine Worte fand, deutsche oder andere, es Sigmund zu erklären, Morituri, der Bierleutnant, begann von da an, ihr zu folgen. Sie drehte sich niemals um, aber sie wußte, daß er da war. Beim wöchentlichen Ball im Kursaal spürte er zum erstenmal, daß die Atmosphäre kühl wurde. Margherita, deren Augen, sonst stets bedeckt von einer Sonnenbrille, jetzt nackt waren, nackt und stechend, wandte keinen Blick von ihm. Das Kurorchester spielte Auszüge aus der Lustigen Witwe und Susannens Geheimnis, altmodische Musik, doch noch Jahre später, wenn Morituri Bruchstücke davon auf der Straße oder im Radio hörte, brachte sie ihm stets den ungeschriebenen Geschmack jener Nacht zurück, in der die drei am Rande eines Abgrunds standen, dessen Tiefe keiner von ihnen auszuloten vermochte... etwas wie ein letztes Nachspiel zu den europäischen dreißiger Jahren, die er nicht kennengelernt hatte ... die er auch mit einem besonderen Raum verbindet, einem Salon am Nachmittag: hagere Mädchen in langen Kleidern, Maskara um die Augen, die Männer sehr glattrasiert, poliert wie Filmstars ... und keine Operetten-, sondern Tanzmusik, sophisticated, einschmeichelnd, eine Spur "modern", elegant die neuesten Melodien antippend ... ein Raum in einem oberen Stockwerk, späte Nachmittagssonne, die durchs Fenster strömt, tiefe Teppiche, Stimmen, die nichts Gewichtiges oder Kompliziertes sagen, ein Lächeln, wissend und herablassend. Er ist an diesem Morgen in einem weichen Bett erwacht, er freut sich auf einen Abend in einem Kabarett, wo er zu populären Liebesliedern tanzen wird, gespielt im gleichen manierierten und geschliffenen Stil. Sein nachmittäglicher Salon mit den beherrschten Tränen, dem Rauch, den vorsichtigen Leidenschaften war eine Station zwischen einem angenehmen Morgen und einem angenehmen Abend: er war Europa, war die rauchige, Stadt gewordene Angst vor dem Tod, aber am gefährlichsten war er als Margheritas nackter, lesbarer Blick, jene verlorene Begegnung im Kursaal, die schwarzen Augen zwischen dem Gedrängel von Juwelen und nickenden alten Generalen beim Tosen des Brodelbrunnens vor den Fenstern, der die Pausen der Musik ausfüllte, wie bald Maschinen den Himmel füllen würden. Am nächsten Abend folgte Morituri ihr zum letztenmal hinaus. Über

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