Die Enden der Welt
ins »Who is Who« verzichtet hatte.
Am Abend dieses Tages haben wir in einer spanischen Familienpension lautlos miteinander geschlafen. Duldsam, versöhnlich, etwas anderes meinend. In der Liebe wandelte sich ihr Gesicht vom Antlitz zur Visage und wieder zurück, und ihre flügelschlagenden Beine wollten nicht stillhalten vor Aufregung. Ich fand dies bewundernswert. Wir waren beide in die Fremdheit ihres Lebens eingetreten, um das zu bleiben: fremd, und alles, was wir miteinander tun konnten, würde die Fremdheit vergrößern, nicht die Zuneigung.
Beim Frühstück sagte Christa:
»Tanger! Das Nonplusultra!«
Non plus ultra, »Nicht darüber hinaus«, lautet die Inschrift, die sich auf den Säulen des Herakles finden soll, von ihm selbst dort angebracht. Die eine der beiden Säulen steht der Legende zufolge auf dem Felsen von Gibraltar, die andere auf dem Berg Dschebel Musa in Marokko. Andere Quellen nennen den Monte Hacho bei der spanischen Exklave Ceuta in Nordafrika als Standort der zweiten Säule. Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist: Die Griechen hielten diese Meerenge für ein von Herakles durch zwei Säulen markiertes Ende der Welt.
Die beiden Säulen tragen vermeintlich den Himmel. Aber was heißt das schon? »Wenn jemand meinte, die Bäume seien dazu da, um den Himmel zu stützen«, steht bei Grillparzer, »dann müssten sie ihm alle zu kurz vorkommen.«
Die Säulen des Herakles finden auch in einer Pindar-Ode Erwähnung, und im Buch Hiob, wo Gott dem Meer seine Grenzen auferlegt, heißt es:
»Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter/hier sollen sich legen deine stolzen Wellen.«
Christa kannte sich nach allen Recherchen zu den Weltuntergangspropheten gut mit den Mythen von den Grenzen der Welt aus.
»Platon siedelt sein Atlantis jenseits der Säulen an«, sagte sie, »vielleicht, um so ihren mythischen Charakter zu unterstreichen.«
»Es gab aber auch Autoren, die die Säulen in Friesland, sogar auf Helgoland vermuteten. Im Wappen Spaniens tauchen sie auf, und selbst die beiden Vertikal-Striche im Dollarzeichen – ursprünglich ein spanisches Goldgewichtszeichen – sollen auf die Säulen des Herakles zurückgehen.«
»Aber wenn man sagt: Bis hierher und nicht weiter«, wandte Christa ein, »hat man zwar eine Grenze gesetzt, doch zugleich alle Aufmerksamkeit auf das konzentriert, was hinter dieser Grenze liegen könnte. Eigentlich hat man damit ihre Überschreitung vorstellbar gemacht, oder?«
»Man hat die Phantasie sogar magisch auf diesen Akt der Überschreitung verpflichtet. Nacheinander wurde Sokrates, Tertullian und Epikur die Maxime zugeschrieben: ›Quae supra nos, nihil ad nos: Was über unser Erkenntnisvermögen hinausgeht, hat keine Bedeutung für uns.‹«
»Damit wäre die geographische Grenze der erkennbaren Welt zugleich eine Grenze des Erkennens.«
»Eine Grenze der Neugier«, sage ich.
Wir hatten es nicht mehr weit bis Gibraltar und dann bis zur Überfahrt nach Tanger, in die vielstimmige, vielgesichtige Vielvölkerstadt. Doch der Abend kam so rosa über die südspanische Provinz, dass wir uns nicht lassen konnten und noch einmal ausstiegen. Das war am fünften Tag. Das Hotel, ein alter Postgasthof mit Fachwerk auf der Fassade und schweren dunklen Balken im Zimmer, lag an der Stirnseite des Marktplatzes. Ich lehnte mich aus dem Fenster. Eine Frau auf dem Platz fiel mir auf. Erst wusste ich nicht, warum, dann wusste ich es plötzlich: Sie war die Einzige, die flanierte.
Am nächsten Mittag stehen wir auf dem Felsen von Gibraltar, in Sichtweite des afrikanischen Kontinents. Der kleine Ort hier, der einmal von Fischern, Einzellern und Paarhufern besessen wurde, gehört heute der Schicksalsgemeinschaft internationaler Tagestouristen und besteht aus Andenken mit Meerblick. Das Andenken ist ein billiger Bodendecker und hat die Kuppe des Hügels inzwischen so vollkommen überzogen, dass zwischen lackiertem Plastik, buntem Blech und geflochtenem Folklore-Geflügel nur ganz selten der frühere Kalksteinboden aufblitzt. Der zu bestaunen wäre. Aber schon das Meer, das gegen die Andenken brandet, trägt wieder die trübe Farbe einer Sofastickerei.
Nach Gibraltar reisen Menschen aus aller Welt, um auf der Ostseite gegen Eintrittsgeld ein Naturschutzgebiet zu betreten und auf der Westseite Souvenirs abzubauen. Anschließend überlassen sie sich gern der immergleichen menschlichen Materialermüdung, die sich auf einem Stuhl vor dem Meer manifestieren kann. Und während der
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