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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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so viele untätige Kellner rum«, sagt Christa auf Deutsch, mit bis zum Anschlag hochgezogenen Brauen. »Könnte nicht mal einer die Ananas schneiden?«
    Zurück auf dem Zimmer, zieht sie als Erstes die Vorhänge zu. Geizig- und Privat-sein-Wollen hängen manchmal zusammen. Aus ihrem Walkman, den sie jetzt selbst im Bett trägt, plärrt mich ihre Musik an, beglückend traurig.
    Manchmal verlassen wir den Zug nur für Stunden und flanieren durch einen dieser Übergangsorte, ein Schwellen-Städtchen. Dort stehen noch die Unsinnigen und Verrutschten als Losverkäufer auf den Plätzen, oder sie diskutieren die Politik. Dies sind die eigentlichen Räume spezifischen lokalen Lebens, aber bevölkert werden sie auch hier nur noch von den Querulanten, den Redseligen, Gestörten und Rechthabern.
    Zwischen den Häusern zappelt sehr hoch die an einem Seilzug befestigte Trockenwäsche und dirigiert die Schatten auf dem Boden. Der Wind verwirbelt in den Silberbirken, blaue, grüne, rote Fensterfassungen protzen, der Geruch von Winter schweift durch den Hochsommer, als schliefe der Schnee schon in den Sommerwolken. Aus den altmodischen Wiesen duftet das Gras geschnitten, ohne geschnitten zu sein. Der Wald steht als ein großer steifer Gaffer. Die Wolken haben eine Schmiere wie Spermaflecken am Himmel hinterlassen, und die Farbe blättert in taumelnden Flocken von der Veranda. Es ist schön.
    Einmal blieb ich vor einer Madonnenstatue stehen, die in einer Nische an der Fassade stand wie eine Wartende an der Bushaltestelle. Ihre Brüste waren die der jungen Mutter, und der Beckenschwung unter dem Kleid gab sich ausladend und suggestiv. Ich bezeichnete die bäurische Heilige auf ihrem Sockel als »fraulich«. Christa nannte mich dafür »sexistisch«, was ich lange nicht gehört hatte, was sie wiederum trotzdem zutreffend fand, was ich deshalb noch lange nicht zutreffend fand und sie aber trotzdem, das sei nun mal ihr persönlicher Standpunkt. Ich sagte, ihr ach-so-persönlicher-Standpunkt, entsprungen einer Familie, in der die Mutter Bob Dylan mit in die Ehe brachte? Sie schwieg überlegen.
    Der Motor des vorbeifahrenden Lastwagens dröhnte breit wie Bläserklang. Der Himmel trug Wühltischmode, die Luft hatte jetzt die Kühle von Grundwasser. Der nächste Zug lief ein, und noch einmal hatten wir das Abteil für uns.
    »Je länger man dich kennt, desto schwieriger wirst du«, sagte Christa.
    Ich entgegnete mit einer Wendung vom Schulhof: »Danke für das Kompliment, kommt ungebraucht zurück …«
    Das brachte sie noch mehr in Rage. Aus Protest las ich von der ersten bis zur letzten Zeile einen Zeitungsartikel über eintausendeinhundertdreißig Frauen, denen in den USA der Weltrekord im Simultan-Stillen gelungen war.
    »Mir schleierhaft, wie du es einen ganzen Tag lang mit dir selbst aushältst …«, bemerkte sie.
    Das erste Surrogat für Individualität ist die Anmaßung. Wird man länger mit ihr konfrontiert, wird es einem schnell klaustrophobisch unter den stereotypen Assoziationen und Gedankenverbindungen, den unverrückbaren Geschmacksurteilen. Die Reaktionen kommen dann im Affekt.
    »… und dir gelingt es nicht, hundert Meter zu reisen, ohne insgeheim mit jeder Sehenswürdigkeit am Straßenrand zu konkurrieren«, sagte ich.
    Manchmal, wenn ich einsam bin oder den Arm einer nicht mehr jungen, aber vertrauten Frau um mich wünsche, dann sehe ich so ein Ehepaar, das vielleicht seit zehn oder zwanzig Jahren zusammen ist, und ihre Blicke sind nicht mal bloß kalt oder ernüchtert, sondern interesselos. Aber dann stößt mich das nicht ab, sondern ich möchte auch so eine Frau, die mich auf diese herrische, unverbesserliche Weise ansieht, ich wünsche mir dann auch diese klimatisierte Hölle der Ehe, diese jahrelang pedantisch zusammengeschraubte Selbstschussanlage, statt meiner Einzelhaft.
    »Wenn du es genau wissen willst, der Mann, der sich morgens meine Träume anhört, mit dem man ein Haus teilen, einen Garten anlegen, eine Aussicht genießen kann: Das ist meine Wirklichkeit. Von der hast du keine Ahnung.«
    Sie referierte ihr Leben wie die Posten auf einem Einkaufszettel: nicht vergessen.
    »Ich kenne die Wirklichkeit der wenigsten Menschen«, sagte ich matt.
    Um mich zu strafen, las sie ausführlich die Menükarte für den Speisewagen. Ich nahm mir eine alte französische Zeitung, las »Schönes Wetter über der Sahara« und unter der Überschrift »Ein flaches Grab« einen Artikel über einen Diktator, der auf den Eintrag

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