Die Enden der Welt
Frauen schwanken wie Lampions an den Fenstern, ein Mann transportiert drei geblümte Kopfkissen auf seinen Schultern, geschminkte Kinder fassen mit bemalten Händen in den milchigen Teint der Frauen. Wo alles bizarr ist, gibt es auch die Unscheinbarkeit des Bizarren.
Das hinduistische Heiligtum Pashupatinath ist mit seinen Tempelanlagen, den Treppen, Brücken, Kanälen, Feuerstellen und verschachtelten Pagoden ein kultischer, ein geweihter Ort. Der Rauch, der von der Verbrennung der Toten aufsteigt, verweht über der Anlage, färbt und schwängert die Luft. Was auf der Zunge schmeckt, ist süßlich geräucherter, toter Körper.
Wir sind zu sechst, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und einheimische Begleiter, und als uns bewusst wird, was wir da inhalieren, wir also augenblicklich Tücher vor die Münder halten, feixen uns die Sadhus aus den Pagoden entgegen, ihrer fotogenen Attraktivität gewiss, dabei dekadent und verdorben wie die Äffchen, die auch dauernd mit sich selbst beschäftigt durch den verschachtelten Tempelbezirk streifen.
In leuchtendem Orange sitzt auch Hanuman Baba. Er ist nun hundertdrei, der älteste unter den hiesigen Asketen. Doch was ihm die Touristen für ein Foto zustecken, nehmen ihm die jüngeren, weltlicheren Sadhus meist wieder weg.
»Das macht nichts, ich brauche es nicht«, wird er sagen und es sogar meinen, der einzig Selbstlose unter Profiteuren.
Während wir reden, steigen von den Leichenverbrennungen im Hintergrund manchmal hellblaue, manchmal dunklere Wolken auf, dann spielen die Flammen mit dem Fett oder haben sich an einem Knochen festgefressen. Hanuman Baba sitzt hier lange genug, um jedes neue Sfumato auf seinem Weg in den Himmel lesen zu können. Seit 55 Jahren lebt er so, seit sechzehn Jahren auf den vier Quadratmetern seines Tabernakels, und kifft und betet, denn nirgends, sagt er, finde er solchen inneren Frieden wie hier.
»Welche Wirkung hat Ihr Beten?«
»Im Gebet sehe ich alles. Manches ist schwer zu erkennen, und manchmal sehe ich Dinge, die lange vergangen sind. Das Beste, was ich im Leben erlebt habe, habe ich im Gebet erlebt.«
»Sie waren immer so?«
»Ich war ganz anders. Aber mit fünfzehn Jahren sah ich einen toten Jungen. Da war mir klar: Auch Kinder sind etwas von Menschen Gemachtes, Materielles. Die Seele ist etwas anderes. Also wollte ich ausbrechen aus diesem Leben der Körper.«
Der wunderliche Visionär: Am Kind erkennt er, dass es menschengemacht ist, aus dem Fleisch ins Fleisch geboren. Dort stößt sein Blick nur auf Materie. Und die Schönheit, die Grazie, die Harmonie? Dort aber, wo das Auge nichts sieht, an der Seele, dort erkennt er Göttliches, er erkennt es im Atem, im Hauch, ein Neuplatoniker eben.
»Hatten Sie eine Erleuchtung?«
»Ein Gespräch. Im indischen Assam habe ich das Gespräch mit Gott gehabt.«
»Was hat er gesagt?«
»Die Leute hatten mich gewarnt: Geh nicht an jenen Ort. Da wohnt ein Geist. Doch gibt es ja gute und böse Geister, also sagte ich: Warum soll ich nicht hingehen, vielleicht ist es ja ein guter? Ich ging also hin und betete. Da gab es ein Geräusch, und eine Stimme sagte: Dein Gebet ist zu Ende, du bist erhört worden. Ich machte die Augen auf, aber da war nichts, nichts im Gebüsch. Nur mit geschlossenen Augen sah ich Gott. Da begriff ich: Ich muss für Gott da sein. Das ist das Wichtigste. Seit jenem Tag lebe ich so.«
Jetzt kneift er die Augen zusammen, als erblickten sie etwas Infames, etwas jenseits der Erscheinungen. Man weiß nicht, auf welchen Schichten der Phänomene dieser Blick ruht.
»Sehen Sie auch Böses?«
»Wenn ich das Gebet durchmache, befinde ich mich in einem Kraftgürtel. Die bösen Dinge können in diesen Kreis nicht eindringen, ich kann sie aber sehen. Ich sehe Dämonen, die Tod und Schmerz bringen. Sie ängstigen mich. Aber ich bleibe in der Wahrheit. Sie hilft mir, mich nicht einschüchtern zu lassen.«
Alle Religionen kennen offenbar diesen Stand der Wahrheit, der Gnade, der »Schau«, doch zeigt er sich als ein egozentrisches Phänomen und wird in den Grenzen des eigenen Ich gefeiert: auf der Himmelsleiter lauter Solisten.
»Machen Sie sich Sorgen um die Welt?«
»Ich mache mir große Sorgen um die Welt. Ich bete für ihr Wohl. Ich habe mein Leben, meine Seele in diesen Dienst gestellt. Aber die Seele ist nicht nur hier in meinem Körper. Sie wandert, sie fliegt auch und sieht alles.«
»Ist Ihre Seele jünger oder älter als Ihr Leib?«
»Die Seele kann man nicht
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