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Die Endlichkeit des Lichts

Die Endlichkeit des Lichts

Titel: Die Endlichkeit des Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Riedel
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immer zu kalte Fingerspitzen hatte. Über ihrer Nase schwenkte Marina die
Palette mit verschiedenen Nagellacktönen, und Verna hörte sich Seufzer
ausstoßen, so schwer fiel ihr die Wahl. Föne zischten, laue parfümgeschwängerte
Luft, Kälteschauer auf ihren nackten, sommerlichen Schultern. Während sie den
perl- und den herzmuschelfarbigen Lack verglich, dudelte hinter dem
Plastikvorhang ein Radio, unterbrochen von den Stimmen der Mädchen, die nebenan
an Becken standen und fremdes Haar auswrangen. Dann drehte unvermittelt jemand
die Lautstärke auf, und Marina hob so abrupt den Kopf, daß ihre gesprayten
Locken ins Wanken kamen.
    »Ein toller Mann!« sagte sie verträumt.
Über ihren Augen hingen Lider wie kleine Zelte. »Natürlich verrückt. Aber
rasant verrückt. Ich meine, wer lebt denn heutzutage noch wie ein Einsiedler in
den Wäldern? Jetzt, wo er sich doch alles leisten kann, und wenn ich alles
sage, meine ich das auch. Nur ein Wort, und er hätte selbst mich!«
    Der Plastikvorhang bauschte sich, als
jemand von der anderen Seite dagegenstieß. Dahinter eine tiefe, schwebende
Männerstimme, die Verna kannte:
    »Was fange ich jetzt an? Was fang ich
an ? Ich renne raus,
so wie ich hin, und lauf die Straße lang.
    Mit offenen Haaren, so. Was solln wir
morgen tun?
    Was sollen wir nur tun?«
    »Süß!« sagte Marina, »einfach
hinreißend, oder finden Sie nicht? Er ist... so... traurig? Sie kennen ihn
doch. Ist er, wie er redet? So... bekümmert und so weise?« Als Marina die
weißen Arme hob, starrten Verna ihre nackten Achseln an, schwärzlich
nachwachsende Härchen unter einem Film von Feuchtigkeit. Zwei große
Schweißflecken hatten sich an den Seiten der ärmellosen Bluse ausgebreitet.
    »Wer?« sagte Verna, obwohl sie genau
wußte, von wem die Rede war. »Macody!« sagte Marina. »Hören Sie, Verna, dieser
Mann macht mich verrückt. Jeden Abend höre ich ihn auf R3, und ich weiß nicht,
wie ich vorher ohne Gedichte leben konnte. Mit mir ist nichts mehr anzufangen.
Jedenfalls nicht ab sechs Uhr!«
    »Mit mir auch nicht!« sagte Verna
wahrheitsgemäß.
    »Und falls es regnet, das Coupé um
vier«, zitierte Alakar
Macodys Radiostimme hinter dem Vorhang, »und wir werden miteinander Schach
spielen!«
    Ein schneidender Geruch verbreitete
sich im Raum, als Marina mit einem Entfernerpad den verrutschten Klecks
Nagellack von Vernas Zeigefinger rieb.
    »Nun«, sagte sie, »sagen Sie schon. Wie
ist er denn? So? Oder ganz anders?«
    Verna schloß die Augen, denn unter
ihrer Handfläche bewegte sich eine Erinnerung, Alakar Macody, das, was sie für
den harten Muskel seines Oberschenkels hielt. Prothese. Stütze. Kunst. Eine
wirkliche Berührung an einem unwirklichen Bein. Es ist ungerecht, hörte sie
sich in Karlas gespanntes Gesicht schreien, und die Schreie durchdrangen die
Decke, zerplatzten am Himmel zu einer punktförmigen Supernova, einem neuen
Stern. Offenbar war das Unfaßbare passiert, und Alakar Macody war zur Belohnung
für sein gräßliches Benehmen zu einer lokalen Berühmtheit geworden.
    Wir sind in unserem Zimmer, klagte Anne Sexton, wir sind in
einem Schuhkarton. Wir sind in einem Blutkarton. Wir haben heikle Wunden.
    »Und?« fragte Marina gespannt.
    »Süß«, sagte Verna. »Genau so ist er,
und kein Deut anders!«
     
    Nach den ersten Gedichten meldete sich
Doris Knöchel. Alakars neues Handy klingelte ausgerechnet, als er mit Vera
Albert im Bett lag und sie eben ihre dicke, muschelfarbene Zunge im
empfindlichen Raum zwischen zwei seiner Zehen versenkte. Aber natürlich hatte
Doris auf die Mailbox gesprochen, nein, geraunt, darum verstand Alakar später
auf der Toilette auch nur die Hälfte, als er ihre Nachricht abhörte. Nur so
viel, daß sie eine Verabredung zu treffen gedachte.
    »Al-kalar!« Eilig verstaute er das
Handy wieder in der Jacke, hängte die Jacke an die Garderobe und spannte alle
Muskeln an.
    »Al-ka-lar!«
    Veras Stimme aus dem Schlafzimmer klang
müde und vertraut. Inzwischen wußte er alles über Müdigkeit, über Fragen und
noch mehr über Antworten, die auch dann gegeben wurden, wenn man sie nicht
verlangte. Wenn Vera die Bettdecke für ihn aufschlug, ihn zudeckte oder mit ihm
schlief, redete sie, Worte, Pistolenschüsse, unter denen er zusammenbrach. Eine
Decke aus Sätzen in einer sonderbaren, ungehobelten Grammatik, Erde, die sie
auf einen Sarg schichtete und zusammenschlug. Schon nach kürzester Zeit kannte
erVeras Leben besser als sein eigenes, das irgendwo, in einer

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