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Die Endlichkeit des Lichts

Die Endlichkeit des Lichts

Titel: Die Endlichkeit des Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Riedel
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Sexton.
    Manchmal sagte sie eine Zeile auf, wie
man ein fremdartiges Gericht ausprobiert, aber jedesmal hatte sie nach ein paar
Worten Gänsehaut auf den Armen. Etwas Böses schien aus den Gedichten zu
dringen, als würde jemand aus einem Grab rufen. Der Tag des einsamen
Trinkens ist da. Keine Wetterberichte, keine Verhältnisworte. Im Grunde war
Anne Sexton nie mehr gewesen, als die Männer in ihr sahen, eine wandernde
Gebärmutter. In den Therapiesitzungen flößte Karla ihr Verständnis ein, die
plötzliche Abneigung gegen Lyrik sei nur einer unter zahllosen Versuchen, sich
vor Befürchtungswelten zu schützen. Vor Empfindungen und Rufen. Gefühle hätten
sich seit Alices Tod wie Bakterien in Vernas Leben festgefressen, hinterrücks,
eine innere Blutvergiftung. Die letzte Bastion gegen die Ich-Auflösung, sagte
sie drohend, als Verna ihr schilderte, wie zuckersüß und übersättigend sie
Sextons Ergüsse neuerdings fand. Verna war selbst überrascht, als ihr das
schreckliche Wort entfuhr. Gesülze. Aber dann sagte sie es noch mal und noch
mal, wie Alice damals Kaffeekanne geschrien hatte, bis ihre Mutter eine Tasse
nach ihr warf. Karla aber hatte mit nichts geworfen, niemanden über Stühle und
Bänke gehetzt, sondern nur mit den Mittelfingern auf ihre Schreibunterlage
getrommelt. Keine Antworten, keine Relativsätze, bloß ein zufriedener Blick. Unter
dem Schreibtisch aber rieb sie ihre Fußknöchel gegeneinander. Ich seh’s genau,
rief Verna, Sie sind nervös! Wer macht das? Mache ich das? Sie und Ihre
eingemachten Erkenntnisse. Das höre ich mir nicht mehr an. Vielleicht haben Sie
das ja noch nicht begriffen! Es war ein Kampf, den sie alleine kämpfte, weil es
ihr nicht gelang, Karla mit dem leuchtenden Mund in die Arena zu ziehen.
Deshalb wanderte Verna in der zweiten Woche nur noch einmal zur Praxis, vorbei
am Tele-Fun-Gebäude, das renoviert wurde und aussah wie ein gigantischer
Knochen. Am Springbrunnen dachte sie an Manasse und hielt den Kopf sehr hoch,
und mit erhobenem Kopf betrat sie zum letzten Mal Karlas Therapiezimmer, um
sich endgültig zu verabschieden. Sie hatte sich entschlossen, sich verstärkt
ihrem Äußeren zu widmen, da der innere Prozeß ihr entglitten war. Am Ende der
Stunde gab Karla ihr weder die Hand, noch rief sie ihr einen Gruß nach. So weit
war es mit ihr gekommen. Sie langweilte bereits ihre Therapeutin.
     
    Alakar Macody war schleierhaft, warum.
Aber er machte rasant Karriere. Seine Mutter rief an, sein Vater rief an, und
sogar die Posthalterin erkundigte sich, ob er den neuen Gewinn nicht doch in
ein Dollar-Depot verwandeln wolle. Er sagte nein, zweimal oder dreimal. Alle
begriffen, selbst Erma Zoffi, nur er selbst begriff es nicht. Als sich einige
Tage nach der Show ein Radiomensch meldete und ihn fragte, ob er nicht abends
ein paar Minuten über Pilze sprechen wolle, sagte er wieder nein, sein
Lieblingswort.
    »Aber Sie haben so eine hübsche
Stimme«, sagte der Mann, »und ich bewundere Ihre kreative, amüsante Art!«
    »Hören Sie«, sagte Alakar, »Sie mögen
das lustig finden oder auch nicht, aber im Augenblick habe ich mir an den
Pilzen den Magen verdorben.« Am anderen Ende wickelte der Radiomann etwas aus,
einen Schokoriegel oder sein Butterbrot, und Alakar hörte, wie er seine Antwort
verdaute, die er für einen weiteren guten Scherz hielt.
    »Gibt es irgend etwas«, fragte er
schließlich, »womit wir Sie ködern können, Macody?«
    »Gedichte«, sagte Alakar, der sich wie
ein gewiefter Hund vorkam. Aber er war selbst überrascht, als der Radiomann ihn
ernst nahm. Bereits eine Woche nach Brainonia trug Alakar Macody in
einer kleinen Sendestation Eliots gesammelte Werke vor. Er erfüllte sich seinen
Lebenstraum. Er tat, was er immer tun wollte. Er las Gedichte. Er verlor sich
in der verlorenen Stimme, die Gedichte vorlas. Danach riefen ihn Menschen an,
deren Namen ihm unbekannt waren, und forderten Bilder oder kleine Andenken von
ihm. Es schien ihm, als sei er in ein Tollhaus geraten.
    Mit der Million hatte es angefangen und
war noch lange nicht vorbei, denn in der zweiten Woche unterbreitete ihm Kavo
von Tele-Fun ein weiteres ernsthaftes Angebot.
    »Gedichte«, sagte er, berührt von
Alakars Erfolgen, »Gedichte im Fernsehen!«
    »Wie bitte?« fragte Alakar.
    »Sie haben die Zeit, Macody, jeden
Abend, vor Brainonia. Ich gebe Ihnen fünf Minuten. Ein Tisch, ein Stuhl,
vielleicht ein kleiner Spiegel. Machen wir gemeinsam eine Sendung, machen wir
uns

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