Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
trug: Geo-Researcher. Leider entdeckten sie keine Kontinente, stießen nicht auf nackte Eingeborene, sondern auf Baustellen. In einem Kastenwagen in Ochsenblutrot fuhren sie über die Straßen Hamburgs und sammelten Rohdaten für digitale Landkarten. Navigationsgeräte sind ein ewiges Milliardengeschäft mit irrwitzigen Zuwachsraten. Navigation in Telefonen, in Computern, in Uhren, überall.
Sie drehten die eintönigsten Reisevideos der Welt.
Anderthalb Stunden lang waren sie zwischen Friedhof und Gesamtschule hin- und hergekreuzt, hatten das Rahlstedter Freibad sowie das Haus der Jugend umkurvt, alles bei Tempo dreißig. Während der eine fuhr und die Kameras lenkte, markierte der andere Tankstellen, Blumenläden, Halteschilder. Dutzende von Punkten hatte Myrbäck heute schon mit einem Plastikstift auf dem Bildschirm seines Laptops gesetzt.
Der Pinguinweg stellte eine unansehnliche Mischung aus allein stehenden Klinkerbauten und verputzten Reihenhäusern in Ocker dar, eine Ödnis in kartografischer Hinsicht, dachte Myrbäck. Aber! Auffällig viele junge Mütter mit Buggy oder Kinderwagen waren unterwegs. Eine nach der anderen schoben sie sich an den Baugittern vorbei, umkurvten lose Bretterhaufen samt Erdhügel und verschwanden ein Stück weiter vorne hinter Hecke und Jägerzaun.
– Wenn wir trotzdem fahren?, fragte Myrbäck. Trotz Sperrgitter? Ich will nicht morgen schon wieder durch Lohbrügge gurken.
– Kommt nicht in Frage, antwortete Classen.
– Wenn wir uns an der Seite vorbeiquetschen? Myrbäck ließ nicht locker. Er holte ein Maßband aus dem Heck des Wagens hervor und begann mit dem Ausmessen.
– Dreidreißig, stellte er fest. Unser Wagen ist zweineunzig. Plus dreißig Zentimeter für die Kameras. Passt doch.
Classen sah ihn misstrauisch an. Dann aber stieg er ins Auto, wendete und rangierte, während Myrbäck ihn vom Absperrgitter aus dirigierte.
Classen ließ sich Zeit. Zentimeter um Zentimeter lenkte er den Transporter am Baustellengitter vorbei, die Gesichtszüge in Konzentration erstarrt.
Hinter ihnen stauten sich die Kinderwagen. Mütter auf dem Weg in die Kinderkrippe »Die Krakeeler«, wo ihr Nachwuchs auf Abholung wartete. Der Durchgang war ihnen jetzt versperrt, was sie ohne Murren ertrugen – Wer hier draußen ein Dasein zwischen Windeln und schreienden Bälgern fristet, deutete Myrbäck für sich die Neugierde der Menge, den mochte ein Kuriosum wie Classen in seinem Mapping Van beglücken.
Was dann geschah, konnte er sich dagegen nicht erklären. Vor allem konnte er es später Classen nicht hinreichend begreiflich machen. Der Wagen sackte, nein, er stürzte, so schnell ging es, mit seinem rechten Vorderreifen in ein Loch. Knallend schlug der Unterboden auf dem Asphalt auf. Der Motor erstarb.
Aus der Fahrerkabine drang ein wütendes Gurgeln, dann entlud sich Classens Entsetzen in einem Schrei.
– Bist du blind?, brüllte er aus dem Seitenfenster. Brauchst du eine Brille? Hast du das Loch übersehen?
– Nein, habe ich nicht. Das Loch hat sich als Pfütze getarnt.
Überraschend wendig kletterte Classen durch das Seitenfenster, ein Paar käseweißer Beine voran, entblößt von den hochgerutschten Jeans. Ein vielstimmiges Raunen begleitete seinen Ausstieg, die Mütter kamen auf ihre Kosten. Er be merkte, dass er Gegenstand unliebsamen Publikumsinteresses war, und seine linke Gesichtshälfte nahm einen purpurnen Farbton an. Mit zittrigen Fingern schlug er in die Tasten seines Mobiltelefons.
Seit neun Monaten arbeiteten Classen und er Seite an Seite. Zu Beginn hatten ihre Fahrpläne sie in den Westen der Stadt geführt. Viel Grün gab es da, weitläufige Gärten, und bei Sonnenschein hatten sie in ihren Arbeitspausen Würste zwischen Gründerzeitvillen und Parkanlagen gegrillt. Classen war ein erträglicher Kollege, allerdings stolzer Vater von Zwillingstöchtern, über die schwärmerisch zu reden er nie müde wurde.
– Ich hab’s doch geahnt, rief er ihm jetzt aber übellaunig zu. Feierabend! Fofftein!
Heute würde kein Technikerteam der »Via Appia« mehr vorbeikommen und ihren Mapping Van aus seinem Schlagloch befreien. Classen rief ein Taxi und entschwand grußlos in den dämmernden Abend.
Myrbäck machte sich zu Fuß auf den Weg. Ihm fielen die Mädchen mit den schwarzen Haaren und den Ohrmilben ein. Hexen. Mit denen sich das Pech vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden an seine Fersen geheftet hatte. Ihr Elend ist ansteckend gewesen, dachte er.
Vielleicht sollte er
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