Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
anfangs wie freundliche Diskretion vorgekommen; später empfand sie Heidis Desinteresse als beleidigend.
– Es war einmal, begann sie. An einem Novemberabend. Da standen plötzlich drei Polizisten vor unserer Wohnungstür in Jordbro und wollten Mikkaela sprechen.
– Weiter, unterbrach Heidi sie. Weiter.
– Gefällt es dir?
– Ja. Klingt nach Märchen.
Sassie überlegte kurz, ob sie wütend sein sollte. Sie holte einmal Luft und erzählte weiter.
– Also. Sie standen vor der Tür und wollten Mikkaela sprechen. Doch die war nicht zuhause, hatte sich tagelang nicht blicken lassen. Keine zehn Minuten, dann fanden die Polizisten im Küchenschrank, weshalb sie gekommen waren: zweihundertzwölf Gramm Amphetamine, zweitausend aus England eingeschmuggelte Tabletten Diazepam. So stand es später in der Anklageschrift. Ich bin nicht auf die Idee gekommen, dass sie einen wegen so was drankriegen.
– Am falschen Ort zur falschen Zeit, meinte Heidi. Es klang nicht sonderlich tröstend.
– Ja. Sie sackten mich ein, weil Mikkaela nicht aufzufinden war. Zwei Monate später bekam ich meine Strafe. Sieben Wochen als Kettenhäftling.
Es hätte auch schlimmer für sie enden können. Eine Richterin in Huddinge attestierte ihr gleichzeitig ein »relativ geordnetes Leben«, weil sie Quartier bei einer Schulkrankenschwester und deren Tochter gefunden hatte.
Heidi massierte sich die Schläfen und sagte:
– Dann hast du immer noch vier Wochen.
– Mal abwarten.
I ch glaub’s nicht! Wer will uns verarschen?
Die Schreie Sven Classens rissen Knut Giovanni Myrbäck aus einer wohligen Lethargie. Sie kamen vor einer Baustelle zum Stehen. Die Straße, die sie laut Arbeitsplan durchfahren sollten, war gesperrt. Ein gelbschwarzer Raupenbagger, ein ausgehobenes Schachtschutzgitter, der Generator neben einem Erdhaufen, sie zeugten davon, dass hier Kanalbauarbeiten in Gang waren. Nichts Großes, nichts, was in zwei, drei Tagen nicht wieder zugeschüttet und versiegelt wäre.
So lange jedoch würden sie unmöglich warten können.
Sie sollten die dreihundertvierzig Meter, die der Pinguinweg lang war, heute vermessen. Das war ihr Auftrag. Dafür bezahlte man sie.
Classen stieg aus dem Wagen, trat auf die Absperrgitter zu und rüttelte.
– Nichts zu machen, zischte er.
Und niemand in Sicht, den er zusammenscheißen konnte. Die Bauarbeiter hatten die Gitter nicht bloß aufgestellt, sie hatten sie in der Erde versenkt, oberirdisch miteinander verkettet, und dann ab in den Feierabend.
– Amerikanische Botschaften werden so gesichert, rief Classen aufgeregt. Jüdische Kindergärten. Aber doch keine Baustellen.
– Doch, widersprach Myrbäck. Baustellendiebstahl stand hoch im Kurs. Was nicht nagelfest war, wurde über Nacht abgeräumt und am Morgen als Altmetall verhökert oder zum Hochbett zusammengehämmert. Im Herbst erst war Stanczak mit einer Bestellung aus Dänemark an ihn und Holzapfel herangetreten: ein Böschungsbagger, bei Tondern über die Grenze zu schaffen, bei Gelegenheit auch einen Radlader der Marke Caterpillar. Sonst noch Wünsche? Nach kürzester Beratung hatten sie den Auftrag abgelehnt – erstens, weil er logistisch schwer zu bewältigen war, zweitens, so bildeten sie sich ein, waren sie auf den niederen Rang von Baustellendieben noch nicht gesunken.
Classen studierte ihren Stadtplan. Den Pinguinweg konnten sie von seinem anderen Ende unmöglich befahren. Der Pinguinweg hatte es nur zu einer Sackgasse gebracht.
– Scheiß drauf, sagte Myrbäck, vergessen wir den Pinguinweg. Es kratzt kein Schwein, wenn er verschwindet.
Classen stierte ihn an.
– Hast du sie nicht alle? Ich werde meine Arbeit nicht einer Sackgasse wegen verlieren.
Sven Classen war ein sehr norddeutscher Mann mit rosiger Gesichtsfarbe. Seine wuchtige Körpermitte ruhte auf langen, dünnen Beinen. Er liebte, ja verehrte seinen »Mobile Mapping Van«. Wenn Myrbäck in letzter Minute zur Arbeit auf dem Gelände der »Via Appia« erschien, hatte Classen längst die Kameras an der Frontscheibe justiert, Bildschirme und Kameralinsen entstaubt, an kalten Tagen die Fahrerkabine vorgewärmt.
Sie hatten einander nicht ausgesucht. Als Myrbäck sich im Frühsommer auf Drängen seiner Frau bei der »Via Appia« beworben hatte, teilte der Vorsteher ihn dem Fahrdienst Classens zu.
Sie waren Kartografen. Moderne Kartografen oder, wie sein Kollege es gerne nannte, weil es ein fernes Echo von Abenteuer, von Humboldt, Magellan oder den Molukken mit sich
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