Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
den Tempo-dreißig-Job an Classens Seite aufgeben? Geld verdiente er mit dem Öffnen verschlossener Autotüren genug. Fest stand aber: Als Vater hatte er einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachzugehen. Punkt. Ein freiberuflicher Gesetzesbrecher konnte in der Not nicht einfach so beim Arbeitsamt antanzen. Und Maria konnte ihre Anstellung als Sekretärin in einem Papiergroßhandel jederzeit verlieren. Reichte heutzutage doch schon ein Orkantief über den Weiten Oulus aus, den finnischen Baumbestand zu halbieren und hässliche Breschen in den Personalbestand der Papierbranche zu schlagen.
In einer Bahnhofsapotheke besorgte er sich Heilsalbe und Wundpflaster. Kaum zuhause angekommen, warf er sich aufs Bett, schlief erschöpft ein und wurde nur kurz aus unruhigen Träumen geweckt, als Maria und Ed am frühen Abend mit Getöse die Wohnung stürmten.
Um Mitternacht klingelte sein Wecker. Er warf sich den Bademantel über, stieg in seine Turnschuhe und erstieg den Dachboden des Mietshauses. Er sammelte einen Satz alter Autoreifen aus ihrem Verhau zusammen, schleppte sie einen nach dem anderen in die Wohnung, rollte sie leise ans offene Küchenfenster und warf sie hinaus. Mit staubigem Klatschen landeten sie auf der Baustelle.
Er hatte sich von Maria das Versprechen abringen lassen, in der Dachkammer Platz zu schaffen für jene Dinge, die durch ihre rigorose Wohnungsteilung überflüssig geworden waren.
E s war dunkel geworden, als Sassie durch die Drehtüren des Gemeindezentrums von Nynäshamn trat. Die nachmittäglichen Sitzungen ihrer Therapie fanden im zweiten Stock statt, in einem Unterrichtsraum, den sie sich mit den Leuten von der Erwachsenenbildung teilten. Dreißig Männer und Frauen saßen an Resopaltischen und wurden einmal pro Woche zu besseren Menschen erzogen.
Schläger und Kleindealer, Frauen, die betrunken in ihr Auto gestiegen und erwischt worden waren, hockten auf zu kleinen Drehstühlen, hatten jeder eine Flasche Mineralwasser vor sich stehen und ein Schälchen mit Haselnüssen. Sie knotete ihre Beine zusammen, um überhaupt Platz zu finden. Sie ruckelte mit ihrem Hintern. Wenn man Pech hatte, erwischte man einen dieser quietschenden Stühle.
Ein Pastor aus der Kirchengemeinde Huddinge war enga giert worden. Sein Thema: Verbrechen und Scham. Ausge rechnet. Er war ein Mann von Mitte dreißig, und sein hellblauer Anzug mit dem altmodischen, breiten Revers hatte Stil. Es war ein Anzug, wie ihn heutzutage nur noch knochige alte Männer trugen. Die Väter und Onkel aus ihren Kindheitserinnerungen. Männer mit Schlips und Kniestrümpfen, die in verrauchten Wohnstuben saßen und tintenschwarzen Kaffee tranken, bis ihnen die Spielkarten aus den zittrigen Händen sprangen.
– Vergessen Sie Ihre Schuld, fing der Pastor an. Keiner von uns ist fehlerlos.
Ein nicht völlig misslungener Beginn, dachte Sassie. Aber ich falle nicht auf dich rein. Gleich wirst du den Moralhammer schwingen.
Sie betrachtete die an den Wänden hängenden Landkarten. Darauf waren die Verwaltungsdistrikte der Region Stockholm in unterschiedlichen Farben dargestellt. Für den Archipel und das offene Meer hatte man ein hässliches Grau gewählt. Nynäshamn langweilte in einem blassen Gelb. Sie nahm eine der Haselnüsse, steckte sie in den Mund und ließ sie über die Zunge rollen. Die Nuss schmeckte staubig.
– Alle leben wir in Angst. In Angst, für unsere Sünden bestraft zu werden, sagte der Kirchenmann. Wir weichen der Strafe aus, wir flüchten sie. Er setzte seine Pausen mit Routine.
Ihr Tischnachbar gähnte. Ein jüngerer Mann, der hunderte von Hollywoodfilmen kopiert und eine zweiwöchige Strafe abzusitzen hatte. Von fern hörte sie Trompeten, Saxofone, Tuben, so genau kannte sie sich nicht aus. Die Blechbläser hatten ihre Abendkurse zur selben Zeit wie sie.
Der Pastor redete sich warm. Über die Schuld als Thema des christlichen Glaubens sprach er, von den Verantwortlichkeiten des sittlich reifen Menschen, sich frei zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Keine Strafe ohne Schuld. Die Gerechtigkeit Gottes entdecken. Vergebung erfahren. Seine Worte kullerten durch ihren Kopf wie farblose Murmeln. Wer in dieser Runde schämt sich denn für das, was er getan? Diese Gruppentreffen waren ein Teil der Strafe, nicht der Therapie. Sie wusste doch, dass die Dinge immer so sein würden: Einige würden mit ihren Lügen und Unzulänglichkeiten, ihrem Versagen, ihren kleinen Verbrechen davonkommen. Und andere eben nicht.
Sie
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