Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
erinnerte sich, dass sie mit Anfang zwanzig in einen Vikar aus Uppsala verliebt war. Sie hatte für ein paar Tage ans Meer fahren wollen und sich an die Ausfallstraße gestellt, bis ein junger Priester in einem alten Citroën vor ihr hielt. Er nahm sie bis nach Knutby mit, wo er an einem Seminar teilnahm. Zwei Tage später war sie in Uppsala in die Sankt-Ansgar-Kirche gegangen und hatte nach ihm gefragt.
Sie bewunderte sein ernsthaftes Wesen und wie er die Choräle durch alle Strophen sang, auch gefiel ihr sein Hang, alles auf der Welt höchstpersönlich zu nehmen. Die Leiden bosnischer Flüchtlinge, den Hunger Afrikas, die Arroganz des schwedischen Staatsministers – nur leider ihre schwärmerischen Blicke nicht.
Bei ihren Spaziergängen teilten sie eine aufreizende Befangenheit miteinander, bis sie am Ufer des Fyrisån all ihren Mut zusammennahm, ihr Bauch tat schon weh davon, seine eiskalte Hand ergriff und ihm in die Augen sah. Ein nervöses Lächeln sprang in sein Gesicht, sein Blick erstarrte, und sie begriff: Niemals. Sie legte ihre Arme um seine steifen Schultern und küsste ihn. Er küsste nicht zurück. Wortlos ließ er sie zwischen nassen Haufen von Birkenlaub stehen.
Irgendwann hörte sie von seinem Unfall. Ein halbblinder alter Mann war in der Nacht auf die Straße gegangen, und er hatte ihn mit seinem Citroën zu Tode gefahren. Später nahm er eine Priesterstelle hoch im Norden des Landes an.
Die Uhr am Handgelenk des jungen Mannes neben ihr zeigte halb sechs. Was ihr wie eine Stunde vorgekommen war, hatte kaum zehn Minuten ihrer Zeit verbraucht. Sie stand auf und sagte, sie müsse mal. Sie schloss sich auf der Behindertentoilette ein und stand eine Zeitlang vor dem Klositz. Kurz überlegte sie, die Alarmschnur zu ziehen und wegzulaufen.
Sie kehrte in den Therapieraum zurück und bemerkte, wie viele der Kursteilnehmer Schreibblöcke vor sich ausgelegt hatten. Ziehen sie geistesabwesend Kringel oder malen Rechtecke aus, fragte sie sich, so wie sie selbst es machte? Oder schrieben sie mit, um für alle Zeiten zu erinnern, dass Scham Selbstreflexion im Angesicht Gottes sei? Die Schuld ein höchstpersönlich Ding? Es ist jedenfalls eine seltsame Sache mit der Schuld, überlegte sie. Sie konnte vom Himmel auf einen herabstürzen. Konnte einem die Mutter wegzaubern. Die Schwester.
Als sie später auf die Straße trat, regnete es. Zum Glück ist Winter, dachte sie, und kein Mensch sieht den einzigen Schmuck, den ich trage: ein breiter schwarzer Plastikreif an meinem Bein.
Sie wickelte ihren braunen Schal um den Kopf, erschrak kurz darüber, wie abgetragen er aussah, und eilte zur Bushaltestelle. Noch dreißig Minuten, dann würde das elektronische Zeitschloss wieder über ihr zuschnappen. Sperrstunde für Sassie Linné.
I ch glaub’s nicht! Wer will uns verarschen?
Fassungslos besah sich Sven Classen die tiefen Risse im blutroten Lack des Vermessungswagens.
– Wer macht denn so was? Myrbäck tat, als strenge er seine Fantasie an.
Irgendjemand hatte sich über Nacht an den Kameras zu schaffen gemacht, es jedoch aufgegeben, sie an ihren Verschraubungen lösen zu wollen. Was immer er dann als Werkzeug verwendet hatte, er war damit abgerutscht und hatte es aus Jähzorn oder Ungeschick ins Blech gerammt. Am Ende hatte er zur Metallsäge gegriffen und eine Amputation am Autoheck vorgenommen. Die Gyroskop-Kamera war verschwunden.
Früh am Morgen war ihr Kastenwagen von einem Transportschlepper aus dem Loch, anschließend an den Rand der Baustelle gezogen worden: geschändet, jedoch fahrbereit, denn die abhandengekommene Gyroskop-Kamera taugte zu wenig. Sie erfasste das Gefälle abgefahrener Strecken.
Lustlos bestiegen sie das Auto. Mit jedem ihrer Vermessungsabschnitte wurde Classen, in wohlwollender Stimmung ein Quell nervtötender Redseligkeit, wortkarger. Er chauf fierte sie durch menschenleere Vorstadtstraßen und Regenschauer, deren Prasseln Myrbäck Frösteln machte. Er drehte die Heizung bis zum Anschlag hoch.
Als sie den Ebertstieg verließen, Myrbäck pixelte gerade mit Akkuratesse den Standort der Gnadenkirche, fragte Classen unvermittelt:
– Knut. Giovanni. Myrbäck. Wie kommst du zu deinem Namen?
– Knut und Myrbäck habe ich von meiner Mutter. Sie ist Schwedin.
– Und jetzt lass mich raten, Giovanni: Dein Vater ist Italiener.
– Nee. Ein waschechter Hamburger. Er wäre lieber Italiener gewesen. Dolcefarniente. Alle Jahre wieder plante er unseren Umzug in den Süden. Immer kam was
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