Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
gewesen.
Als vor dem großen Fenster die Sonne im Blätterdach der Kastanie verschwand, rief sie Lilja zu sich ins Haus. Zu Abend aßen sie das Brot mit viel Honig. Dann schickte sie Lilja ins Bett. Die wollte nicht gehorchen und weinte, bevor sie einschlief. Später, als der letzte Streifen Tageslicht hinter der Ziegelmauer des Pulverlagers versickerte, schaltete sie alle Lichter im Haus an und legte sich zu ihrer Schwester. In der Nacht weckte sie das Geräusch von Stimmen. Sie kamen vom Pfad, der hinter dem Haus zur Wallmauer führte. In Regennächten war er eine beliebte Abkürzung, denn er barg keine knöchelhohen Pfützen, in die man unvermutet trat. Sie kannte keine der Stimmen.
D er Kühlschrank roch nach Zwiebeln und Gammelkäse. Im Spülbecken tropfte Wasser aus dem Hahn in eine Pfanne, leere Bierflaschen standen in Reih und Glied neben dem Sack mit Kartoffeln, aus dessen löchrigem Gewebe sich Dutzende weißer Keimstängel hinaufreckten, zur Sonne, zum Licht. Myrbäck fragte sich, ob dies die Küche eines Toten sei. Eine Antwort wusste er nicht zu geben.
Holzapfels Futon war ungemacht. Seit beinah fünfzehn Jahren schlief er auf dieser dunkelbraunen Schlafmatte und immer in der Bettwäsche des »Loew’s Plaza«. So lange war es her, dass er in dem Hotel als Kofferkuli seine Dienste versehen hatte. Auf dreiundzwanzig Stockwerken voller Gästezimmer und Flure, die er, so wurde ihm nahegelegt, tunlichst meiden, stattdessen die Personalaufzüge und Nottreppen des Bettenhochhauses nutzen sollte. Kurz: Der Lakai sollte mit seinen langen Haaren den guten Eindruck nicht stören, den die Gäste aus Übersee, häufig Amerikaner, beim Alsterbummel von der schönen Hansestadt gewinnen mochten. Gekränkt ließ Holzapfel fortan mitgehen, was ihm von Wert schien. Er versorgte seine nahe wie ferne Bekanntschaft mit Bademänteln, Seifestückchen, Duschgel. Und eben mit jener Bettwäsche, die mit dem Emblem des Hotels bestickt war, einem stilisierten Globus.
Myrbäck erhob sich vom Bett und schritt noch einmal sämtliche Zimmer der Wohnung ab. Nichts deutete darauf hin, dass Holzapfel in den letzten Stunden hier gewesen war, nichts deutete auf das Gegenteil. Bevor er ging, legte er einen Zettel auf den Küchentisch. Ruf mich an! Audi abholen!
Was seine Frau konnte, das konnte Knut Giovanni Myrbäck schon lange.
D as Küchenfenster war von den Dämpfen der Kochkartoffeln vernebelt. Sassie Linné nahm ein Geschirrhandtuch und wischte breite Streifen durch die Schicht des Kondenswassers. Sie öffnete das Fenster einen Spalt, zündete sich eine Zigarette an, zog den Rauch tief in ihre Lunge und pustete ihn gegen den Strom frischer Luft, der hereinzog.
Sie trat zum Herd und goss das Kartoffelwasser in den Ausguss. Sie ging zur Besenkammer, nahm sich die Kneifzange, setzte sich auf den Hocker am Fenster, zog ihr linkes Bein an und stemmte die oberste der vier Fassungen an ihrem Fußband auf. Ein plombiertes Schräubchen fiel und tänzelte klimpernd über den Boden der Küche. Sie sah ihm neugierig hinterher und wunderte sich, wie leicht ihr der Akt mutiger Selbstbestimmung gefallen war.
– Was machst du mit der Zange? Malin stand plötzlich hinter ihr. Regennass und vorzeitig war sie aus der Schule gekommen. Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie in ihrem Zimmer.
Sassie warf die Zigarette aus dem Fenster und begann damit, Kartoffeln für sich und Malin anzubraten.
Nachdem sie und das Mädchen gegessen hatten, stellte sie sich wieder vor das Fenster. Seit dem Morgen hatte ein Schauer nach dem anderen die Fassaden der gegenüberliegenden Häuser gewaschen. Jetzt aber würde es nicht mehr regnen, spürte sie, dafür war der Himmel zu matt, zu erschöpft. Sie sah, wie der Bus durch die Unterführung unter der Schnellstraße fuhr und an der Bushaltestelle gegenüber der Würstchenbude hielt. Es war der Zweiundsiebziger. Als er die Haltestelle verließ, zerstreuten sich die Ausgestiegenen. Heidi kam mit zwei großen Einkaufstüten in den Händen den Weg hinauf. Sogar von hier oben war zu erkennen, wie müde sie war.
Sie hatten die Einkäufe verstaut, Heidi hatte sich umgezogen und Kaffee aufgesetzt, als sie, ohne Sassie dabei anzublicken, fragte:
– Warum haben sie dir das Band verpasst?
Endlich. Endlich fragte sie. Nicht einmal als Sassie sich bei ihr auf die Annonce in der Nynäsposten hin vorgestellt hatte, hatte sie wissen wollen, welche Umstände das Überwachungsband an ihr Bein gekettet hatten. Ihr war das
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