Die englische Episode
mit dem Kopf auf eine Kante der Presse geschlagen. Aber so war es nicht gewesen.
Sie sank auf den Stuhl am Fenster und versuchte ihre Gefühle zu erkennen. War sie traurig? Entsetzt? Hatte sie Angst? Sie wusste es nicht. Sie fühlte nichts. Nur ihren Körper, schwer und hölzern.
Cornelis’ Tod war ein Desaster für die Druckerei. Und für sie selbst? Nicht für die Besitzerin der Druckerei, sondern für die Frau Maria-Luise? Ich fühle mich erleichtert, dachte sie und schob den Gedanken hastig fort. Natürlich war sie entsetzt und traurig. Cornelis Kloth war ein tüchtiger Mann gewesen, zuverlässig und fleißig. Niemand, der ihn nicht achtete.
Das hatte sie auch dem kleinen dicken Mann von der Wedde erzählt, nach dem Dr. Reimarus gleich geschickt hatte.
«Es tut mir Leid, Madame Boehlich», hatte der Arzt gesagt, der ihr bei seiner Ankunft tröstlich vertraut erschienen war, nachdem er während der letzten Tage und Nächte so oft an Onnes Bett gestanden hatte. «Euer Sohn wird wieder gesund, Euer Faktor hingegen, nun ja, Ihr seht es selbst. Jemand hat ihn erschlagen, mit einem Hieb, aber gründlich. Man muss die Wedde holen.»
Sie hatte genickt, als habe er eine belanglose Bemerkung über das Wetter gemacht und einen der Männer auf den Weg geschickt.
‹Jemand hat ihn erschlagen, mit einem Hieb.› Das klang so unwirklich. Und sie war so müde. Dennoch war sie nicht bereit gewesen, die Druckerei zu verlassen. Die Drucker und Setzer trafen ein, die Gehilfen, der Lehrling, als sie noch über den Toten gebeugt auf dem Boden kniete. Hachmann, der Altgeselle, als Erster, er lief gleich nach dem Arzt. Alle standen um sie herum, nah, als müssten sie sie beschützen, und sahen auf den Arzt und den Toten hinter der letzten Presse. Schließlich nahm Hachmann ihren Arm und führte sie zu einem der Hocker an den Setztischen. Dort wartete sie und starrte hinaus, bis der Weddemeister und sein Gehilfe kamen.
Sie saß einfach da, blickte auf den rauen Stamm der Kastanie, und seltsame Gedanken wanderten durch ihren Geist: Wie hoch die Kosten für die neuen Fenster sein mochten, welche Suppe Onne heute Abend am liebsten essen würde oder dass sie unbedingt Tuch für zwei neue Schürzen kaufen musste. Alltägliche Gedanken, an einem Morgen wie diesem jedoch seltsam.
Schließlich trugen Männer, die sie nicht kannte, Cornelis’ Leichnam hinaus und zum Eimbeck’schen Haus, wohin alle zur genaueren Untersuchung kamen, die eines unnatürlichen Todes gestorben waren. Sie sah ihnen nach, hörte ihre von der Last schweren Schritte im vorderen Raum verhallen und wischte die Tränen aus dem Gesicht. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie weinte. In diesem Augenblick hatte sie noch gespürt, was sie fühlte: Angst. Aber sie wusste nicht, warum.
Der Weddemeister schickte die Männer, die sich immer noch bei der hinteren Presse drängten, in den vorderen Raum und trug ihnen auf zu warten, er habe mit allen zu reden. Seinen Gehilfen, Grabbe, schickte er zum Tor, damit er die Gaffer, die sicher bald auftauchen würden, zu Ruhe und Ordnung rufe und vertreibe.
Sie beobachtete all das, ohne sich dem, was geschah, zugehörig zu fühlen. Es erschien ihr wie eine Szene aus einem Roman.
Plötzlich war es still in der Druckerei. «Madame?», hörte sie den Weddemeister sagen und roch einen Hauch von Rosenwasser. Ein parfümierter Weddemeister? Auch das war unwirklich.
«Wagner», nannte er seinen Namen, zog einen Hocker heran und setzte sich ihr gegenüber. «Ein trauriger Anlass», fuhr er fort und rutschte auf die vordere Hockerkante,«nun ja, sicher seid Ihr nicht in der Stimmung, aber», er räusperte sich und wischte sich mit einem großen blauen Tuch über Stirn und Nacken, «aber Ihr werdet verstehen
,
ich muss Euch einige Fragen stellen. Wenn Ihr dazu lieber ins vordere Haus gehen wollt, in Eure Wohnung …»
«Nein», rief sie und straffte die Schultern. Wenn sie ihr Haus oder das Kontor betrat, das Schlafzimmer gar, begann endgültig die Wirklichkeit. «Nein», wiederholte sie ruhiger, «lasst uns hier sprechen. Was wollt Ihr wissen, Meister Wagner?»
Sie hatte ihn bisher kaum wahrgenommen, nun betrachtete sie ihn mit plötzlicher Neugier. Das rosig-runde Gesicht des Weddemeisters, er mochte dreißig, höchstens dreiunddreißig Jahre zählen, drückte echtes Bedauern aus, in der rechten Hand hielt er einen kurzen Bleistift, den er unablässig zwischen Daumen und Zeigefinger drehte, in der linken ein paar wenig akkurat
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