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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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zwei Hände. Trotzdem gab es keine ernsten Probleme. Jedenfalls keine, von denen ich weiß, und er hat mir nie welche verschwiegen.» Sie hoffte still, dass das die Wahrheit war.
    Wagner nickte. Auch das hörte er bei seinen Ermittlungen in Mordsachen oft. Am Anfang zuwenigst, der Sinn erschloss sich gewöhnlich erst am Ende. «Er war also nie vorher nachts in der Druckerei?»
    «Natürlich nicht. Jedenfalls weiß ich nichts davon. Aber», fröstelnd schob sie die Hände unter ihre Schürze, «ich wusste ja auch nicht, dass er in
dieser
Nacht in der Druckerei war. Ich verstehe das nicht. Was hat er nur gemacht?»
    Genau das hätte Wagner gerne von ihr gewusst. Er hatte sich in der Druckerei umgesehen, noch nicht sehr gründlich, doch offensichtlich wusste er schon mehr als Madame Boehlich. Falls sie nicht log.
    «Ihr habt in der letzten Nacht am Bett Eures Sohnes gewacht, Madame. Es war eine ruhige Nacht, kein Sturm, auch der Regen fiel nur sanft und leise. Habt Ihr etwas gehört? Irgendetwas, das Euch ungewöhnlich erschien. Oder auch gewöhnlich, ganz gewöhnlich sogar. Irgendetwas?»
    Luise schloss die Augen und legte müde den Kopf in den Nacken. «Nein», sagte sie, «ich habe nichts gehört. Die Fenster waren fest verschlossen, Onne braucht Wärme. Ich verstehe das trotzdem nicht, wenn jemand die Setzkästen heruntergeworfen hat, dann hätte ich das doch hören müssen.»
    «Ja.» Wagner blickte stirnrunzelnd auf den silbrigen Teppich von Lettern. «Andererseits», murmelte er,«wenn er sie nicht umgeworfen hat, sondern vorsichtig ausgekippt   …»
    «Aber warum? Ich dachte, ich weiß es natürlich nicht, aber ich dachte   …»
    «
Was
dachtet Ihr?»
    «Nun, ich dachte, warum sollte jemand die Setzkästen ausleeren? Nicht im Zorn, wie man eine Vase oder einen Teller zerschlägt, sondern behutsam. Leise sogar. Das macht doch nur jemand, der verhindern will, dass wir unsere Arbeit tun. Es wird sehr lange dauern, bis die Lettern wieder fehlerlos einsortiert sind. So lange kann nicht gesetzt, also auch nicht gedruckt werden. Ich dachte: Vielleicht gab es einen Kampf und die Kästen sind dabei von ihren Tischen gestürzt. Aber das hätte Lärm gemacht. Glaubt Ihr nicht?»
    «Genau das glaube ich auch, Madame. Dann hättet Ihr es gehört?»
    «Bestimmt. Es war wirklich sehr still. Wir haben gute Fenster, trotzdem, das hätte ich sicher gehört.»
    «Und Schritte? Habt Ihr vielleicht Schritte gehört? Oder eine Tür?»
    Nein, Madame Boehlich hatte nichts gehört. Nichts als das Atmen ihres Sohnes. Und einmal die Eule, die oft in der Kastanie rastete.
    «Gewiss habt Ihr auch nichts gesehen. Oder habt Ihr mal in den Hof hinausgeschaut in dieser Nacht? Nein. Aha. Kann man vom Zimmer Eures Sohnes, überhaupt von Eurer Wohnung im vorderen Haus, sehen, wenn in der Druckerei ein Licht brennt?»
    «Nein. Oder vielleicht doch, von Merthes Kammer. Aber der Holunder vor ihrem Fenster ist so groß geworden – nein, ich glaube, es geht nicht. Höchstens von denbeiden kleinen Stuben aus, die in den Etagen darüber liegen. In der einen schläft meine Tochter, aber Lille ist nicht da. Sie wohnt bei meiner Cousine, seit ihr Bruder krank ist. In der anderen, der oberen Stube, wohnt niemand, darin steht nur Gerümpel.»
    «Also habt Ihr kein Licht gesehen. Sehr schade. Und wann hat Dr.   Reimarus Euer Haus verlassen?»
    «In der Nacht? Als Onnes Fieber gesunken war. Es war noch ziemlich dunkel, wohl kurz vor fünf. Bald darauf habe ich die Glocke vom Gänsemarkt schlagen gehört.»
    ‹Zu spät›, dachte Wagner, ‹da war Kloth längst tot.›
    «Nur eine Frage noch, Madame. Ihr kanntet Euren Faktor viele Jahre und als seine zukünftige Frau gewiss auch über das Geschäftliche hinaus. War er am Sonnabend, als Ihr ihn zuletzt saht, anders als sonst? Ihr wisst schon: schweigsamer, schlecht gelaunt, unruhig vielleicht? Oder wirkte er, nun ja, wirkte er bedrängt?»
    Auch diese Frage stellte Wagner nur widerwillig. Sie gehörte nun einmal dazu, doch barg sie zwei bedeutende Nachteile. Zum einen war sie zumeist müßig, Punktum. Zum anderen, und das fand er noch unerfreulicher, begannen die Menschen bei dieser Frage zu phantasieren. War ihnen vor einer Minute eine Begegnung noch als ganz gewöhnlich erschienen, glaubten sie nun, dies oder jenes zu erinnern, legten Gewicht auf Gewichtloses, erinnerten sorgenvolle Mienen, wo nur Gleichgültigkeit gewesen war. Kurz, immer wieder nahm er sich vor, beim nächsten Mal diese Frage einfach

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