Die englische Episode
Jahres hatte sie das an manchen Tagen bedauert.
«Morgens», sagte sie und faltete die Hände im Schoß, «habe ich zu viele Pflichten im Haus. Heute war ich allerdings sehr früh da.» Wegen der Krankheit ihres Sohnes sei sie seit mehreren Tagen nicht mehr in der Druckerei gewesen, nun, da es Onne besser gehe, habe sie gleich nach dem Rechten sehen wollen.
«Und da habt Ihr ihn gefunden
.
Sofort, als Ihr den Raum betratet?»
«Nein, nicht sofort. Zuerst sah ich die Lettern auf dem Boden, dann erst habe ich hinter die letzte Presse geguckt und da», sie schluckte, räusperte sich leise und fuhr fort, «da habe ich ihn gefunden. Dann kam der Altgeselle – er war heute Morgen nach mir der Erste – und hat gleich Dr. Reimarus geholt. Danach erst kamen die anderen, noch bevor Hachmann mit dem Arzt zurück war.»
«Ihr wart mit Monsieur Kloth verlobt, Madame, Ihr müsst ihn gut gekannt haben. Es wird äußerst schmerzlich für Euch sein …»
«Verlobt?» Das Wort erschien ihr unpassend. «Ja», stimmte sie zögernd zu und ignorierte Wagners letzte Bemerkung, was ging ihn ihr Schmerz an?, «das warenwir. Obwohl es darüber keinen Vertrag gibt. Ich bin Witwe, das wisst Ihr sicher, es ist nur natürlich, dass ich den letzten Wunsch meines Mannes erfülle. Er hat Cornelis vertraut, der Faktor ist …», sie ließ ihren Blick wieder zum Fenster wandern, «er war ein anständiger Mensch und guter Faktor. Eine Druckerei braucht einen Meister, und ich bin kein junges Mädchen mehr. Ich bin eine Witwe in mittleren Jahren mit zwei Kindern.»
Wagner nickte. Was er da hörte, war alltäglich. Eine Handwerkerwitwe, die ihr Geschäft, ihre Werkstatt nicht verlieren wollte, tat gut daran, so bald wie möglich und schicklich wieder zu heiraten. Und zwar einen Mann aus dem richtigen Amt, um ihrem Unternehmen einen neuen Meister zu geben. Kaum eine schaffte es länger als zwei Jahre, die Geschäfte allein aufrechtzuerhalten, denn wer vergab schon gern Aufträge an eine Frau, auch wenn sie noch so tüchtige Gesellen hatte. Wagner zweifelte nicht an diesem Usus. Es war, wie es war. Über solche Dinge war es müßig nachzudenken.
«Monsieur Kloth war kein junger Mann mehr, lebte er allein?»
Luise nickte. «Er war achtunddreißig Jahre alt. Seit seine Mutter vor drei Jahren starb, lebte er alleine am Alten Steinweg. Seine Schwester ist mit einem Drucker im Rheinischen verheiratet, sonst hat er keine Angehörigen.»
«Wann habt Ihr ihn zuletzt gesehen, Madame Boehlich?», fragte Wagner, während er seine Zettel wieder mit dem kratzenden Bleistift traktierte.
«Vorgestern. Er kam am Abend zu mir, nachdem die Arbeit für die Woche beendet war und er die Druckerei abgeschlossen hatte. Mein Sohn ist sehr krank, und er wollte hören, ob es ihm besser geht.»
«Wie lange habt Ihr mit ihm gesprochen?»
«Nur wenige Minuten. Ich wollte schnell zu meinem Sohn zurück. Cornelis kam oft nach der Arbeit zu uns, wir haben dann alles besprochen, wozu tagsüber keine Zeit war. Geschäftliche Dinge», fügte sie hastig hinzu, «das war schon so, als mein Mann noch lebte
.
Aber am Samstag hatte ich dafür keinen Sinn, es ging Onne sehr schlecht.»
‹Geschäftliche Dinge›, kritzelte Wagner und dachte an das, was er die Männer vor wenigen Minuten hatte flüstern hören. «Er ist gestern Abend, wahrscheinlich in der Nacht erschl …, ich meine gestorben», sagte er
.
«Was hat er mitten in der Nacht, dazu in einer Sonntagnacht, in der Druckerei gemacht?»
«Darüber denke ich schon den ganzen Morgen nach», log Luise. «Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht hatte er etwas vergessen, was er dringend brauchte.»
«Was könnte das gewesen sein?»
Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. «Nichts, Meister Wagner. Ich kann mir nichts vorstellen, was nicht bis zum Montagmorgen warten konnte.»
«Papiere? Ein Problem mit einem Auftrag? Vielleicht Listen für Bestellungen?»
«Alle Papiere, wenn Ihr damit Aufträge, Schriftmuster und derlei meint, liegen im Kontorschrank im Vorderhaus. Um eilige Bestellungen ging es gewiss nicht, unser Lager ist gut sortiert, die letzte Papierlieferung ist erst zehn Tage her. Außerdem gehört das zu meinen Aufgaben. Es gibt nichts, was er nachts in der Druckerei tun konnte. Wie ich schon sagte, für die Arbeit wird gutes Licht gebraucht. Wir haben zwar sehr viele Aufträge, tatsächlichsind wir schon ein wenig in Verzug, einer unserer Gesellen hat uns gerade verlassen, da fehlen
Weitere Kostenlose Bücher