Die Enklave
Dienstag, dem 2. Juni um 16 Uhr im Jahre des Herrn 2009 eingeladen. 35 East Olivet Avenue. RSVP liegt bei. Einladung zum Hochzeitsempfang folgt.«
Das klang alles sehr geheimnisvoll. Ich hätte gerne ein paar Fragen gestellt, aber er hatte uns seinen Gefallen bereits erwiesen. Nachdem der Worthüter zu Ende gesprochen hatte, gab er uns zu verstehen, dass wir entlassen waren, also ging ich voraus, zurück zum Allgemeinbereich.
Fingerhut sah nachdenklich aus. »Was glaubt ihr, was eine Hochzeit ist?«
»So eine Art Feier? Vielleicht etwas ganz Ähnliches, wie wir es immer nach der Namensgebung machen.« Ich fragte mich immer noch, warum die Karte in einer Büchse mit süßlich riechendem Pulver verschlossen gewesen war, aber ich hatte mich längst damit abgefunden, nicht alles verstehen zu können. In der Enklave war es weit wichtiger, in dem Bereich gut zu sein, der einem zugeteilt wurde. Das Leben ließ keinen Platz für allzu viel Neugier. Dafür war schlichtweg keine Zeit.
»Hast du noch irgendwelche andere heiße Ware?«, witzelte Stein. »Wir könnten sie uns ansehen, bevor wir zurück an die Arbeit gehen.«
Fingerhut warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Das ist überhaupt nicht komisch. Die werden uns jetzt wochenlang
beobachten, damit sie ganz sicher sein können …« Dann verstummte sie, wollte den Namen des möglichen Vergehens nicht einmal aussprechen.
Sicher sein können, dass wir nicht horten. Letztes Jahr wurde ein Junge namens Kegel mit alten Schriftstücken und technischen Gegenständen in seiner Wohnzelle erwischt; ein paar davon waren unter seiner Matratze versteckt gewesen, andere in Gegenständen mit einem Hohlraum. Jäger brachten die ganze Sammlung zu Dreifuß und dem Worthüter, damit er sie inspizieren und das Urteil fällen konnte. Das meiste wurde als bedeutsam für unsere kulturelle Entwicklung eingestuft, und der Junge wurde verbannt. Außer Bleich hatte, soweit ich wusste, noch niemand außerhalb einer Siedlung überlebt.
Natürlich gab es hier unten noch andere Siedlungen. Wir waren nicht allein. Manchmal trieben wir Handel mit der am nächsten gelegenen Enklave, aber das bedeutete einen dreitägigen Marsch durch gefährliches Gebiet. Der Mangel an Ressourcen ließ nicht zu, dass mehrere große Gruppen im selben Gebiet lebten. Solange wir Bälger waren, hämmerten die Ältesten uns ein, dass wir verloren wären, wenn wir das sensible Gleichgewicht nicht bewahrten. Und wir glaubten es, denn es stimmte.
Wir hatten Geschichten über andere Enklaven gehört, die ausgestorben waren, weil dort niemand dafür gesorgt hatte, dass die Regeln befolgt wurden. Sie hatten zu viel Nachwuchs und verhungerten, oder sie hielten sich nicht an die Hygienevorschriften und starben an der Dreckkrankheit. Die Regeln hier dienten einem Zweck: Sie retteten unser Leben.
Ich war derselben Meinung wie Fingerhut und schüttelte nur den Kopf über Steins Bemerkung. »Wenn es das ist, was du mit deinem Leben vorhast, will ich dich nicht mehr in unserer Nähe haben.«
Ihm fiel regelrecht das Gesicht herunter. »Das hab ich doch nicht ernst gemeint.«
»Das weiß ich«, sagte Fingerhut leise. »Aber es gibt Leute, die das vielleicht nicht verstehen.«
Sehr wahrscheinlich sogar. Sie kannten Stein nicht so, wie wir ihn kannten. Manchmal redete er einfach drauflos, ohne nachzudenken, aber er meinte es nicht böse. Nie hätte er etwas getan, das den anderen Bewohnern der Enklave Schaden zufügen könnte. Man musste ihn nur mit einem Balg auf seinem Arm sehen, um das zu verstehen, aber Dreifuß und der Worthüter hatten gar keine andere Wahl, als grausam zu sein, wenn es um das Wohl aller ging. Ich wollte nicht, dass mein Freund auf Wanderschaft gehen musste.
»In Zukunft werde ich vorsichtiger sein.« Er sah aus, als hätte er es begriffen.
Kurz danach trennten wir uns, und jeder ging seiner eigenen Aufgabe nach. Ein Teil von mir wusste, dass unsere Freundschaft nicht mehr lange auf diese Art weitergehen konnte. Über kurz oder lang würde Fingerhut sich mit anderen Schaffern zusammentun – mit denen hatte sie mehr gemeinsam, mehr, über das sie reden konnte. Stein würde bei den Zeugern bleiben, und ich würde mich mit den Jägern am wohlsten fühlen. Ich dachte nur ungern über diese unvermeidliche Entwicklung nach, denn sie erinnerte mich daran, wie bald sich unser Leben für immer verändern würde.
Ich kam am Versammlungspunkt an, gerade als Seide zu sprechen begann. Sie warf mir einen scharfen
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