Die Enklave
ihren nie endenden Appetit.
Der Rest unseres Patrouillengangs verlief vergleichsweise ereignislos. In der Hälfte der Fallen war Fleisch. Außer uns lebten auch noch ein paar Tiere hier unten, vierbeinige, pelzige Geschöpfe, die uns als Nahrung dienten. Ich tötete eines, dessen Genick der Schlinge immer noch erfolgreich Widerstand leistete, und es fiel mir schwerer als bei dem Freak. Mit gesenktem Kopf hielt ich den noch warmen Kadaver in meinen Händen, den Bleich wortlos entgegennahm und in den Sack zu den anderen stopfte. Die Bälger brauchten etwas zu essen.
Ich wusste nicht, wie er die Zeit feststellte, aber schließlich erklärte er: »Wir sollten wieder zurückgehen.«
Auf dem Rückweg versuchte ich mir unsere Route einzuprägen. Niemand hatte etwas in der Richtung gesagt, aber eines Tages würde Bleich von mir erwarten, dass ich voranging. Ausreden würde er nicht gelten lassen, genauso wenig wie ich vorhatte, nach welchen zu suchen. So zählte ich die Schritte von einer Abzweigung zur nächsten und prägte sie mir ein.
Als wir die Enklave erreichten, waren die meisten anderen Jäger bereits zurück. Zwirn kümmerte sich um die Beutel und wog das Fleisch, um die Teams dann entweder zu loben oder herunterzuputzen. Wir bekamen ein »gute Arbeit«, während das Team nach uns sich anhören musste: »Dank euch werden die Bälger morgen früh nichts zu essen haben.«
»Wir sehen uns morgen«, sagte ich zu Bleich.
Er nickte kurz und ging dann um das Feuer herum. Ohne es zu wollen, beobachtete ich die feinen Linien seines schmalen, muskulösen Rückens und sah, dass seine Haare bis über seinen Nacken hingen. Bleich bewegte sich so, wie er kämpfte: ökonomisch, ohne auch nur das kleinste bisschen Energie zu verschwenden.
»Was hältst du von ihm?«, fragte Seide. Mit ihren zwanzig Jahren war sie ein Stückchen größer als ich. Sie trug ihr blondes Haar kurzgeschoren, und ihre Zähigkeit machte sie zur idealen Anführerin. Doch wenn sie Bleich anschaute, sah man die Verachtung in ihrem Gesicht. Es gefiel ihr nicht, wofür er stand, und auch nicht, dass er seine Befehle nicht mit dem gleichen Eifer erfüllte wie die anderen.
Mein Bild von Bleich war noch viel zu verworren, als dass
ich etwas Konkretes hätte erwidern können, also murmelte ich nur: »Zu früh, um etwas zu sagen.«
»Eine Menge Bürger haben Angst vor ihm. Sie sagen, er muss mindestens zur Hälfte ein Freak sein, sonst wäre er dort draußen einfach gefressen worden.«
»Geredet wird viel«, brummte ich.
Seide nahm diesen Kommentar als unterschwellige Verteidigung meines neuen Partners und verzog den Mund. »Das stimmt. Manche sagen auch, du solltest Zeugerin werden wie deine Mutter.«
Ich biss die Zähne zusammen und verließ mit schnellen Schritten den Küchenbereich. Ich hatte beschlossen, noch ein kleines Extratraining zu absolvieren und mir dafür einen Partner zu suchen. Niemand sollte mir nachsagen können, ich wäre als Jägerin nicht geeignet. Niemand.
DER WORTHÜTER
Zwei Tage später wurden Stein, Fingerhut und ich vor den Worthüter gerufen. Inzwischen hatte er Zeit gehabt, über die Sache mit der weißen Karte nachzudenken. Ich wusste zwar, dass wir nichts Falsches getan hatten, trotzdem krampfte sich mein Magen vor Angst zusammen.
Er war nicht ganz so alt wie Dreifuß, aber etwas an seiner Ausstrahlung machte mich nervös. Der Worthüter war groß und dürr, seine Arme bestanden nur aus Knochen. Mit bleiernem Blick saß er vor uns.
»Nachdem ich die Büchse eingehend untersucht habe, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ihr nichts von ihrem Inhalt wissen konntet. Ich erkläre euch hiermit alle für unschuldig.« Erleichterung durchflutete mich, während er weitersprach. »Ihr habt recht daran getan, mir ihren Inhalt zu bringen. Ich werde ihn in unser Archiv aufnehmen.« Damit meinte er eine graue Metallkiste, in der er alle wichtigen Dokumente aufbewahrte. »Und als Belohnung für eure Ehrlichkeit habe ich beschlossen, euch dies hier vorzulesen. Macht es euch bequem.«
Das war neu. Die meisten von uns konnten gerade gut genug lesen, um Warnschilder als solche zu erkennen, aber nicht viel mehr. Der Schwerpunkt unserer Ausbildung lag
auf anderen Dingen, die eher der Gemeinschaft zugutekamen. Auf seine Einladung hin setzte ich mich mit überkreuzten Beinen, Fingerhut und Stein rechts und links neben mir.
Der Worthüter räusperte sich. »Sie sind ganz herzlich zur Hochzeit von Anthony P. Cicero und Jennifer L. Grant am
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