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Die Enklave

Die Enklave

Titel: Die Enklave Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ann; Pfingstl Aguirre
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es schaffen.«
    »Du bist gut, Zwei«, erwiderte Bleich. »Und wir sind keine kleinen wehrlosen Bälger mehr.«
    Den Rest der Nacht gingen wir schweigend nebeneinander her. Bleich hielt Ausschau nach Orientierungspunkten und Straßen, die er kannte. Ich fragte mich, wie es wohl für ihn war, sich daran zu erinnern, wie er diesen Weg schon einmal mit seinem Zeuger gegangen war, ob es ihm nicht vorkommen musste wie eine Erinnerung aus einem anderen Leben. Ich versuchte mir vorzustellen, Oben zu leben, und selbst jetzt kam es mir eher wie ein Traum vor als wie etwas Wirkliches, als würde ich jeden Moment erwachen und Zwirns Fuß in meinen Rippen spüren, während er mich anschrie, endlich aufzustehen und mich an die Arbeit zu machen.
    In der Dunkelheit hier oben konnte ich bestens sehen, und ich bemerkte die Schatten sofort. Ich behielt sie am Rand meines Gesichtsfeldes im Auge – sie schienen uns eher zu verfolgen, als sich auf einen Angriff vorzubereiten. Doch vielleicht machte es das noch schlimmer. Vielleicht sammelten sie sich, wie Bleich gesagt hatte, und warteten, bis sie stark genug waren, um es noch einmal zu versuchen.
    »Siehst du sie?«, flüsterte ich.

    »Gangs. Sie kommen wieder, wie ich gesagt habe. Nur diesmal mit mehr Leuten.«
    »Hast du irgendeine Ahnung, wie viele es sind?«
    Bleich schüttelte den Kopf. »Mindestens doppelt so viele wie beim letzten Mal. Sie werden uns nicht noch mal unterschätzen. «
    Noch während er das sagte, stürzten sie sich auf uns. Es mussten mindestens zwanzig sein, und manche von ihnen waren so jung, dass ich sie noch als Bälger bezeichnet hätte. Ich zögerte. Ich war dazu erzogen worden, unsere Bälger zu beschützen, nicht gegen sie zu kämpfen, und deshalb reagierte ich nicht schnell genug. Schließlich nahm ich den Kampf auf, aber diese Ganger kämpften nicht wie Jäger: Sie traten und bissen und kratzten und hüpften umher wie Tiere. Vor allem aber waren es viel zu viele, und ich spürte den dumpfen Aufprall einer Keule auf meinem Hinterkopf.
    Ich hörte noch, wie Bleich mir etwas zurief, dann wurde die Welt um mich herum schwarz.
     
    Als ich wieder erwachte, war es dunkel. Nicht die Finsternis der Nacht, wie ich sie hier oben kennengelernt hatte, oder die Dunkelheit in den Tunneln, sondern ein sanftes Schwarz von sich ständig verändernder Dichte. Sie hatten mir etwas über die Augen gebunden. Ich versuchte mich aufzusetzen, aber meine Hände waren hinter meinem Rücken gefesselt, weshalb ich seitlich umfiel und mit dem Gesicht auf den harten Untergrund schlug. Ich spürte, dass meine Waffen nicht mehr da waren, und ein weiterer Versuch, mich aufzusetzen, bestätigte mir, dass auch meine Beine gefesselt waren.

    Um mich herum brach Gelächter aus, also machte ich ihnen nicht die Freude, mich noch länger sinnlos kämpfen zu sehen. Angst nagte an mir. Wo war Bleich? Sie hatten mir ein Stück Stoff in den Mund gestopft, und ich konnte nicht sprechen. Sollte ich schreien, selbst wenn das einen Tritt ins Gesicht nach sich ziehen würde?
    Als der Lärm um mich herum nachließ, konnte ich zuerst einzelne Stimmen erkennen und schließlich auch, was sie sagten. »Wer kriegt sie?«, fragte jemand.
    Eine hohe, dünne Stimme antwortete: »Ich. Ich hab sie niedergeschlagen. Sie gehört mir.«
    »Gute Arbeit, Welpe. Aber du weißt ja nicht mal, was du mit ihr anstellen sollst«, entgegnete eine andere Stimme höhnisch.
    Sie war tiefer, und noch während sich derjenige, der das gesagt hatte, neben mich kniete, wusste ich instinktiv, dass ich mich vor diesem Mann in Acht nehmen musste. Er riss meine Augenbinde herunter, und als ich ihn sah, zuckte ich unwillkürlich zusammen: Sein ganzes Gesicht war von Schnitten übersät, die aber nicht von Kämpfen stammten wie Bleichs Narben, sondern absichtlich zugefügt worden waren. Tiefe Linien, die seine Haut zerfurchten, blutrot bemalt, ein wildes Streifenmuster wie auf einem rohen Stück Fleisch. Die Narben schockierten mich – vor allem deshalb, weil ich ihre Bedeutung nicht verstand.
    Der Schein des Feuers spiegelte sich in seinen Augen, die blass waren wie Regenwasser, und im Schwarz seiner Pupillen tanzten die Flammen. »Du bist also wieder wach. Woher kommst du, dass du kämpfst wie ein Wolf?«
    Er zog das Zopfband von meinem Haar, aber es war kein
angenehmes Gefühl wie bei Bleich, sondern ein Angriff, und als er meine Haare packte, um meinen Kopf hin und her zu drehen, tat es weh. Nackte Angst kroch durch meinen Körper,

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