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Die Enklave

Die Enklave

Titel: Die Enklave Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ann; Pfingstl Aguirre
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Himmel. Der Regen trommelte auf den Boden, bis es sich anhörte wie trampelnde Füße, unterlegt mit einem geflüsterten Zischen. Ich hatte noch nie etwas so Wunderbares gehört. Es machte mir nicht einmal etwas aus, dass wir durch dieses Wasser laufen mussten. Ich hoffte nur, das Buch würde trocken bleiben. Bei der nächsten Gelegenheit wollte ich weiter darin lesen.
    »Nein, tut es nicht. Auch da waren sie im Unrecht.«
    Wie bei so vielen anderen Dingen. Zum ersten Mal taten mir die Bewohner von College leid, gefangen gehalten durch die Gesetze der Enklave, ohne Möglichkeit, sich daraus zu befreien. Sie würden das hier nie zu sehen bekommen, mussten im Dunkeln leben und würden in der Dunkelheit sterben.
    »Wir müssen zur Enklave zurück«, sagte ich. »Die Ältesten müssen die Wahrheit erfahren.«
    Bleich legte mir seine Hände auf die Schultern. »Sie werden dir nicht zuhören, Zwei. Sie werden uns töten, sobald sie uns sehen. Außerdem … glaubst du etwa, ich hätte es ihnen nicht erzählt?«
    Übelkeit stieg in mir auf. Uns hatten sie nichts erzählt. Nicht ein Wort war nach Bleichs Ankunft durchgesickert. Keiner von uns wusste, woher er gekommen war, wie er überlebt und was er gesehen hatte. Ich hatte immer geglaubt, sein Schweigen würde bedeuten, dass er nicht darüber sprechen wollte , doch jetzt erkannte ich die Wahrheit.
    »Sie haben dir gedroht.«
    »Nicht direkt gedroht. Ich konnte für sie kämpfen oder sterben.« Er wiederholte, was er bereits gesagt hatte, und erst jetzt wurde mir die ganze Tragweite klar.

    Sie hatten es die ganze Zeit über gewusst und sich dafür entschieden, uns alle im Dunkeln zu halten, wortwörtlich und im übertragenen Sinn. Ich fühlte mich verloren; es war nichts mehr übrig, an was ich glauben konnte.
    »Und deshalb hast du nie versucht dazuzugehören. Und hast nie viel gesprochen.«
    Außer mit Banner, der Frau, die er als seine einzige Freundin bezeichnet hatte, und das vielleicht auch nur, weil sie so wie er der Meinung war, dass die Dinge sich ändern mussten. Hätte ich geholfen, anstatt wegzurennen, wäre sie jetzt vielleicht noch am Leben. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass die Spione der Ältesten unser Gespräch vielleicht mitgehört hatten. Wenn sie Banner ohnehin schon verdächtigt hatten, dann war der Wortwechsel zwischen uns ihr Todesurteil gewesen.
    »Ich hatte Angst, dass sie jemandem wehtun würden, der mir wichtig ist. Als Exempel.«
    »Also hast du dich die ganze Zeit, die du bei uns warst, nie sicher gefühlt.«
    Bleich zuckte die Achseln. »Ich hatte einen Platz zum Schlafen und etwas zu essen. Durch das Training war die Arbeit erträglich, und die meiste Zeit ließen mich die Leute in Ruhe. Hier oben wäre ich schlimmer dran gewesen.«
    »Es tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung, wie es wirklich für dich war.«
    Sein Schweigen sagte mir, dass er nicht mehr darüber sprechen wollte. Ich konnte ihn verstehen. Es hat keinen Sinn, über Dinge zu diskutieren, die man nicht mehr ändern kann.
    Wir gingen los in die Richtung, die Bleich »Norden« nannte. Nach und nach keimte wieder Hoffnung in mir auf
und verdrängte meine Enttäuschung. Es war schlimm für mich, Fingerhut, Stein und die Bälger zurückzulassen, aber ich musste akzeptieren, dass ich keine andere Wahl hatte.
    Wenn es einen besseren Ort zum Leben gab, würden wir ihn finden.
    Während wir marschierten, gab ich mich voll und ganz der frischen, kühlen Luft und dem fallenden Wasser hin. Es tauchte die Gebäude in einen silbrigen Schimmer, ließ sie verschwimmen, als würde ich durch einen Tränenschleier schauen. Bleich behielt die dunkle Straße im Auge und suchte nach Markierungen an den Türen. Rote oder weiße Farbe bedeutete Gefahr, die irgendwo auf uns lauerte.
    »Ihr seid auf unserem Territorium«, sagte eine harte, kalte Stimme.
    Das Geräusch des Regens musste ihre Schritte übertönt haben, denn ich hatte sie nicht kommen hören. Sie kamen zuerst von hinten, dann standen sie plötzlich überall um uns herum, in einem geschlossenen Kreis. Die meisten waren jünger als ich, aber alle trugen Waffen. Und nur weil sie jünger waren, waren sie nicht unbedingt schwächer. In ihren Augen sah ich einen tödlichen Zorn, dem ich in der Enklave nie begegnet war, und in diesem Moment wusste ich, dass Bleich die Wahrheit gesagt hatte. Ich verstand, warum er die leichter einzuschätzende Gefahr der Freaks und ein Leben in der Dunkelheit dem Leben hier oben vorgezogen hatte.
    Bleich

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