Die Enklave
während er mich musterte. Seine hellen Augen begutachteten mich, als wäre ich ein unbekanntes, fremdartiges Tier.
Ich versuchte, ihm mit meinen Augen zu verstehen zu geben, dass er das nicht tun sollte, dass er es bereuen würde, noch bevor alles vorüber war, aber es schien nicht zu funktionieren. Als Reaktion auf meinen Blick lachte er nur. Gefesselt und wehrlos lag ich da, und ich wusste nur eines: Eher würde ich sterben; ich hatte mich nicht durch die Tunnel bis hierher durchgeschlagen, um auf diese Weise zu enden. Endlich zog er den Stoff aus meinem Mund, gerade so weit, dass ich sprechen konnte.
»Unten«, fauchte ich.
Interesse blitzte in seinem wilden Gesicht auf, und er flüsterte: »Dann scheinst du zu mehr zu taugen, als nur Nachwuchs zu kriegen. Ich möchte, dass du dich später daran erinnerst, wie ich deine Haut gerettet habe.« Er richtete sich auf und sprach so laut, dass alle ihn hören konnten. »Wascht sie. Ich werde sie später persönlich einweisen.«
Hände packten mich und zerrten mich weg. Ich spürte jede Unebenheit unter mir und wusste, dass ich Prellungen davontragen würde, während ich hier und da kleine Ausschnitte meiner Umgebung wahrnahm. Ein riesiger Raum zog an mir vorbei, mit hohen Decken, dann hielten wir an, und mein Kopf schlug wieder auf den Boden.
Ich wurde auf die Füße gezogen, und jemand kniete sich hin, um meine Beinfesseln loszumachen. Und dieser Jemand
war schlau genug, meine Fesseln von hinten zu lösen, sonst hätte ich ihm sofort einen heftigen Tritt verpasst. Ein stechender Schmerz fuhr durch meinen Schädel, als ich den Kopf drehte, um über meine Schulter nach hinten zu schauen, aber ich konnte zumindest erkennen, dass es sich um eine junge Frau handelte. Sie war klein und schmal, und blaue Flecken bedeckten beinahe ihren ganzen Körper. Manche waren schon mehrere Tage alt, andere noch ganz frisch. Sie trug keine Male, woraus ich schloss, dass dieses Statussymbol nur männlichen Gangmitgliedern zustand.
Meine Hände ließ sie gefesselt. Kluges Mädchen. Na ja, mehr oder weniger. Sie konnte nicht allzu klug sein, wenn sie die Schläge hinnahm, ohne sich zu wehren. Aber wie ich mittlerweile wusste, konnte man sich an alles gewöhnen. Wenn sie hier geboren war, kam es ihr wahrscheinlich gar nicht in den Sinn, sich zu fragen, ob die Welt, in der sie lebte, so war, wie sie sein sollte. Ich hatte ja selbst noch beträchtliche Schwierigkeiten damit, meine Sicht der Dinge an die veränderte Situation anzupassen.
Vollkommen gleichgültig ließ sie den Knebel in meinem Mund und machte sich mit einem Messer an mir zu schaffen. Meine Kleidung fiel in Fetzen von meinem Körper, und dann wusch sie mich, als wäre ich irgendein Werkstück, das sie für seinen ersten Einsatz vorbereitete. Es nützte auch nichts, wenn ich mich wand; sie hielt mich nur noch fester und brachte ihre Arbeit zu Ende.
Dann zog sie mir ein langes, zerlumptes Hemd an, wie auch sie eines trug. Es ließ viel mehr von meinen Beinen sehen, als mir lieb war, und sie gab mir nichts, was ich darunter hätte anziehen können. Das schien genau der Punkt
zu sein: Sie versuchten, meine Wut in Angst zu verwandeln, aber ich ließ es nicht zu, denn instinktiv verstand ich den Zweck dieses Rituals. Sie nahmen mir meine Sachen weg und versuchten, mich zu einem ängstlichen, kleinen Mädchen zu machen. Aber meine Male konnten sie mir nicht wegnehmen. Ich hatte sie mir verdient .
Die Starken überleben , sagte ich zu mir selbst, auch wenn das ein Lehrsatz der Jäger war. Wenn es irgendetwas gab, das mich aus dieser Situation retten konnte, dann die Entschlossenheit, die ich in meiner Ausbildung gelernt hatte. Ganz egal wie oft einer der älteren Bälger mich beim Sparring niederschlug, ich stand wieder auf. Ich kämpfte noch härter, lernte einen neuen Trick oder einen neuen Wurf. Außer gegen Nagel hatte ich noch nie einen Kampf verloren.
Jetzt bereute ich mein Zögern bei dem Kampf gegen die Gangbälger, aber es war zu spät. Ich durfte nicht zulassen, dass meine Angst mich lähmte. Die Welt um mich herum mochte sich drastisch verändert haben, aber ich hatte eine Chance zu überleben. Und ich würde sie nutzen.
Endlich nahm sie den Knebel aus meinem Mund, und ich spuckte aus, um die Stoffreste und den ranzigen Geschmack loszuwerden. Dann musterte ich ihr Gesicht. Sie war hübsch, wäre sie nicht so zerschunden gewesen. Das arme Ding schaffte es nicht einmal, mir in die Augen zu sehen.
»Ich bin Zwei«,
Weitere Kostenlose Bücher