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Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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hohen Blutdruck, siebenmal übte ich mich in Geduld, sah sie stricken, schnell und gleichmäßig klapperten die Nadeln. Das Vorderteil eines Pullovers für ihren Urenkel entstand vor meinen Augen, ein kleines Strickkunstwerk, eine Wollandschaft, und hätte mir jemand erzählt, das sei das Werk einer Blinden, ich hätte es nicht geglaubt. Zuweilen hatte ich den Verdacht, sie sei gar nicht blind, aber dann tastete sie sich wieder an die Stricknadeln im Pullover heran und erzählte weiter, zuweilen unterbrochen, wenn sie nachdenklich die Maschen zählte, den Rand befühlte, nach dem anderen Faden tastete – sie mußte ja mit zwei, manchmal sogar mit mehr Fäden arbeiten –, die Nadel langsam, aber zielgenau in die Maschen einführte, in sich versunken und doch über mich hinwegsah, um sodann ohne jede Hast, aber auch ohne zu stocken die Strickarbeit wiederaufzunehmen, erzählte von notwendigen und zufälligen Ereignissen, wer und was alles eine Rolle gespielt hatte bei der Entdeckung der Currywurst: ein Bootsmann der Marine, ein silbernes Reiterabzeichen, zweihundert Fehfelle, zwölf Festmeter Holz, eine whiskytrinkende Wurstfabrikantin, ein englischer Intendanturrat und eine englische rotblonde Schönheit, drei Ketchupflaschen, Chloroform, mein Vater, ein Lachtraum und vieles mehr. Das alles erzählte sie stückchenweise, das Ende hinausschiebend, in kühnen Vor- und Rückgriffen, so daß ich hier auswählen, begradigen, verknüpfen und kürzen muß. Ich lasse die Geschichte am 29. April 1945, an einem Sonntag, beginnen. Das Wetter in Hamburg: überwiegend stark bewölkt, trocken. Temperatur zwischen 1,9 und 8,9 Grad.
    2.00: Hitlers Trauung mit Eva Braun. Trauzeugen sind Bormann und Goebbels.
    3.30: Hitler diktiert sein politisches Testament. Großadmiral Dönitz soll seine Nachfolge als Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber antreten.
    5.30: Die Engländer gehen bei Artlenburg über die Elbe.
    Hamburg soll als Festung bis zum letzten Mann verteidigt werden. Barrikaden werden gebaut, der Volkssturm wird aufgerufen, der Heldenklau geht durch die Krankenhäuser, das letzte, das allerletzte, das allerallerletzte Aufgebot wird an die Front geworfen, so auch der Bootsmann Bremer, der in Oslo im Stab des Admirals die Seekartenkammer geleitet hatte. Dort war er seit Frühjahr 44 so gut wie unabkömmlich gewesen, bis er Heimaturlaub bekam und auch gefahren war, nach Braunschweig. Er hatte seine Frau besucht und seinen knapp einjährigen Sohn zum ersten Mal gesehen und sich überzeugen können, daß er zahnte und Papa sagen konnte. Dann hatte er sich wieder auf die Rückreise zu dem Seekartenmagazin gemacht, war in einem überfüllten Personenzug bis Hamburg gekommen, von dort mit einem Militärlaster nach Plön gefahren, am nächsten Tag von einem Pferdefuhrwerk nach Kiel mitgenommen worden, von wo aus er sich nach Oslo einzuschiffen gedachte. In Kiel war er aber zu einer Panzerjagd-Einheit abkommandiert worden und nach einer dreitägigen Ausbildung an der Panzerfaust nach Hamburg befohlen worden, wo er sich bei seiner neuen Einheit melden mußte, die im Endkampf in der Lüneburger Heide eingesetzt werden sollte.
    Gegen Mittag war er in Hamburg angekommen, hatte etwas von seiner Marschverpflegung, zwei Scheiben Kommißbrot und eine kleine Dose Leberwurst, gegessen und war durch die Stadt gegangen. Er kannte Hamburg von früheren Besuchen, konnte die Straßen aber nicht wiedererkennen. Einige Fassaden waren stehengeblieben, dahinter die borstig ausgebrannte Turmruine der Katharinenkirche. Kalt war es. Eine von Nordwesten herantreibende Wolke schob sich der Sonne entgegen. Bremer sah auf der Straße den Schatten auf sich zuwandern, und er erschien ihm wie ein dunkles Vorzeichen. Am Straßenrand zerschlagene Ziegel, verkohlte Balken, Bruchstücke von Sandsteinquadern, die einmal das Portal eines Hauseingangs gewesen waren, noch stand ein Teil der Treppe, aber sie führte ins Nichts. Wenige Menschen waren auf der Straße, zwei Frauen zogen eine kleine Handkarre, ein, zwei Wehrmachtslaster mit Holzvergasern fuhren vorbei, ein von einem Pferd gezogenes Dreiradauto. Bremer erkundigte sich nach einem Kino. Man schickte ihn zu Knopfs Lichtspielhalle auf der Reeperbahn. Er ging zum Millerntor, dann zur Reeperbahn. Nutten standen, grau und abgehärmt, in den Hauseingängen, zeigten ihre mageren Beine. Wunschkonzert wurde in der Abendvorstellung gezeigt. Vor der Kasse stand eine lange Schlange. Man konnte sich ja sonst für sein Geld

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