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Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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Warum hast du mich so belogen? Oder hintergangen? Das Wort trifft ja das, was gewesen war: Sie war draußen in einer ganz anderen Welt herumgelaufen, als der, die sie ihm vorgestellt hatte. Vielleicht würde er sagen: Den Krieg soll man nicht verlängern, das ist unanständig und unmoralisch. Er war desertiert, und sie hatte ihm dabei geholfen. Sie hatte verhindert, daß er andere tötete, daß er möglicherweise getötet wurde. Aber das würde sie so nicht sagen. Egal. Er mußte nur etwas sagen, darauf ließe sich dann auch etwas antworten, und sie könnten dann reden, über die Zeit, über die Jahre, die sie allein gewesen war, über seine Frau, über seine Tochter oder seinen Sohn. Auf jeden Fall wollte sie ihm das sagen, was sie sich auf dem langen Heimweg zurechtgelegt hatte: Daß es auch in dunklen Zeiten helle Augenblicke gibt und daß die um so heller scheinen, je dunkler die Zeiten sind.
    Und dann schloß sie die Wohnungstür auf.
    Und er fragte nicht nach Zeitungen, fragte nicht nach Radioröhren, auch nicht, wo die deutschen Truppen stünden, sondern sagte: Herzlichen Glückwunsch, und er führte sie zum Küchentisch, da standen, sorgfältig mit der Schere aus rotbedrucktem Illustriertenpapier ausgeschnitten und auf das komplizierteste gefaltet, drei Papierblumen. Wunderschöne Ersatzrosen.
    Woher weißt du?
    Auf der Kohlenkarte steht dein Geburtsdatum.
    Das Fenster stand offen, von unten war das Gemurmel der Schwarzhändler zu hören, es war so friedlich, daß sie beinahe gesagt hätte: Es ist Frieden, aus und vorbei. Mußt keine Angst mehr haben. Kannst gehen. Aber dann sagte sie sich, daß sie in diesem Moment weder ihm noch sich die Stimmung verderben wollte. Und war erst einmal die Wahrheit heraus, hatte sie viel Zeit zum Nachdenken, und sie dachte, ich teile mir jetzt die Tage genau ein. Ich lasse für ihn das Papier zwei Tage früher ankommen, also in drei Tagen, und die gönne ich mir noch. So sind wir beide beschenkt. Und was sie sich vornahm, so gut hatte sie sich in vierzig Jahren kennengelernt, das tat sie denn auch.

6
     
     
    Aber dann, am nächsten Tag, sah Lena Brücker die Fotos. Die Fotos waren in der Zeitung erschienen. Fotos, bei denen Lena Brücker der Hunger verging, obwohl sie morgens nichts gegessen hatte, Fotos, die sie wie benommen nach Hause gehen ließen, Fotos, die ihr die Frage stellten, was sie all die Jahre gedacht und gesehen hatte, oder genauer, woran sie nicht gedacht hatte und was sie nicht hatte sehen wollen. Es waren Fotos, wie sie zu der Zeit viele, die meisten, genaugenommen alle Deutschen zu sehen bekamen. Fotos aus den von den Alliierten befreiten KZs. Dachau, Buchenwald, Bergen-Belsen. Waggons voller Leichen, nur noch mit Haut überzogene Skelette. Ein Foto zeigte die gefangengenommene Wachmannschaft, SS-Männer und SS-Frauen, die dabei waren, die Waggons mit diesen Skeletten zu beladen. Einige SS-Männer hatten sich für diese Arbeit die Ärmel aufgekrempelt. Die packten richtig zu. Häftlinge, die überlebt hatten, saßen, nein, lagen apathisch da, Sterbende, in gestreiften Anzügen.
    Als sie nach Hause kam, fragte Bremer, ist dir schlecht? Und sie erzählte, was sie vorgab, in der Stadt gehört zu haben, was ihr aber, während sie es sagte, als Lüge erschien, eine dreckige Lüge, mit der sie sich beschmutzte, weil sie sagte, sie habe es gehört: es habe Lager gegeben, in denen Menschen umgebracht worden seien, und zwar systematisch, Zehntausende, Hunderttausende, einige sagen Millionen.
    Gerüchte, sagte Bremer.
    Sie konnte doch nicht sagen, ich hab es schwarz auf weiß gesehen. Ich habe in der Zeitung Fotos gesehen. Der Captain hat heute erstmals nicht mit mir gesprochen, mich nicht gegrüßt, mich nicht angesehen, mir keine Zigarette angeboten. Ich hatte für ihn gedeckt, extra Osterglocken für ihn auf den Tisch gestellt. Aber er sagte nichts, nichts, er schüttelte nur den Kopf und verschwand in seinem Büro, schloß hinter sich die Tür, die er sonst immer offenstehen ließ.
    Menschen, Juden, sollen, sagte sie zu Bremer und zwang sich, ruhig zu bleiben, vergast und dann verbrannt worden sein. Unvorstellbare Dinge sind passiert. Es soll Fabriken des Todes gegeben haben.
    Märchen, sagte Bremer, alles Quatsch. Feindpropaganda. Wer hat ein Interesse, solche Gerüchte in die Welt zu setzen? Der Russe. Und dann sagte er etwas, was Lena Brücker aus der Fassung brachte. Sie hatte aufgehört zu stricken, das Strickzeug im Schoß, sah ein wenig über mich

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