Die Entdeckung der Currywurst
Kapitulation nicht leichter geworden. Die Engländer hatten die Marken übernommen, so wie sie die Lebensmittelbehörde übernommen hatten, einschließlich Dr. Fröhlich. Aber es kam zu Reibungen zwischen den Produzenten, den Bauern und den Behörden. Und auch unter den Behörden gab es Verteilungskämpfe; Unterschleif, Schiebung und Diebstahl nahmen zu. Nicht nur, weil, wer hortete, beiseite schaffte, nicht mehr damit rechnen mußte, ins Zuchthaus zu kommen oder gar unters Fallbeil, sondern weil die neue Verwaltung vom Feind besetzt war. Noch vor ein paar Tagen war man dem an die Gurgel gegangen. Das perfide Albion, der Tommy, regiert von Plutokraten. Da war nur jedes Mittel recht, den übers Ohr zu hauen, da wurde ja nicht der Volksgenosse beschissen, sondern der Gegner. Sie hatte sich vorgenommen, noch an diesem Abend Bremer die Wahrheit zu sagen. Holzinger hatte von seiner kleinen Tochter erzählt, die es nicht abwarten könne, endlich wieder zur Schule zu kommen – noch war die geschlossen. Sie hatte an das Foto gedacht, das Bremer mit der Frau und dem Kind zeigte. Während sie den Speiseplan für den nächsten Tag mit Holzinger besprach, überlegte sie, wie sie das Gespräch mit Bremer beginnen sollte. Es gab noch etliche Zentner Graupen. Holzinger brauchte aber Fleischextrakt, um wenigstens etwas Geschmack in die Suppe zu bekommen. Was ist denn mit dir, fragte Holzinger. Hallo. Und er fuhr ihr wie einem Kind, das tagträumt, mit der Hand vor die Augen. Du mußt versuchen, Fleischextrakt aufzutreiben. Frag Captain Friedländer. Mach ihm schöne Augen. Ich muß dir etwas gestehen. Gestehen? Nein, das sagt man nur im Film. Ich will dir etwas sagen. Ich muß etwas klarstellen. Wieso, sagte Holzinger, Zwiebeln haben wir doch noch. Fleisch wäre natürlich schön. Der Krieg ist zu Ende, seit Tagen. Seit Tagen? Ja, genaugenommen seit drei Wochen, hier in Hamburg. Ich weiß, sagte Holzinger. Das zu sagen, was zu sagen ist. Nein, besser: Ich muß dir sagen, ich habe etwas verschwiegen. Aber das zu sagen, war so schwer, weil einem die richtigen Worte fehlten. Wie sollte sie das, was so verzweigt, verzwickt war, so viele unterschiedliche, sich sogar widersprechende Gründe hatte, auf nur ein plattes Wort festlegen: verschwiegen, also belogen. Fast so, sagte Frau Brücker, als hätt ich ihn betrogen, obwohl ich das in dem Fall ja gerade nicht hab, andererseits wiederum doch. Was für ein Wirrwarr. Sag mal, fragte Holzinger, hörst du mir überhaupt zu? Ich brauche keinen Wirrwarr, sondern Fleischextrakt. Fleisch? Warum nicht. Natürlich wäre das wunderbar. Aber das willst du dir doch nicht aus den Rippen schneiden, denk ich mal? Was ist los mit dir?
In der Kantine aßen die beiden englischen Offiziere an einem gesondert stehenden, weiß gedeckten Tisch gemeinsam mit einem schwedischen Journalisten, der über die Versorgungslage im besetzten Deutschland schreiben wollte. Als Lena Brücker das von einem englischen Koch bereitete, aber wesentlich schlechter als Holzingers Fleischextrakt-Suppe schmeckende Irish Stew mit der Kelle auf die Teller schöpfte, bekleckerte sie die Uniform von Captain Friedländer.
Entschuldigung. Ich bin ganz durcheinander heute.
Nicht so schlimm, sagte der.
Sie lief in die Küche, kam mit einem feuchten Tuch zurück und begann, an der Uniform herumzureiben. Schon gut, sagte er, weil es ihm vor all den Leuten peinlich war. Später steckte er ihr ein Päckchen Zigaretten zu. Sie haben Kummer. Wenn ich Ihnen helfen kann. Und sah sie dabei an mit einem Blick, der verboten war, die durften, wie wir ja wissen, nicht fraternisieren. Vielleicht, sagte Frau Brücker, wenn der Bremer damals nicht gewesen wäre, vielleicht wäre ich dann heute in England, in irgend so einem Altenheim mit Efeu an den Mauern.
Sie würde, sagte sie sich auf dem Heimweg, die Tür aufschließen und sagen: Du kannst, wenn du willst, gehen. Der Krieg ist aus. Ich habe ihn nämlich für uns – für dich, vor allem aber für mich – etwas verlängert. Aus ganz persönlichen, selbstsüchtigen Gründen, zugegeben. Ich wollte dich einfach noch etwas dabehalten. Das ist die Wahrheit. Sie könnte sagen: Früher hättest du deine Frau und dein Kind sowieso nicht sehen können. Was mich übrigens interessiert, was ich dich schon lange fragen wollte: Ist es ein Mädchen oder ein Junge? Er würde dann auch irgend etwas sagen, hoffte sie. Das Schlimmste wäre, wenn er wortlos aus der Wohnung laufen würde. Vielleicht würde er sagen:
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