Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
Vom Netzwerk:
hinweg, schüttelte den Kopf: Ist schon Breslau entsetzt, hat er gefragt.
    Da, es war das erste, das einzige Mal, schrie sie ihn an: Nein. Die Stadt ist im Arsch! Schon längst. Platt. Verstehste. Nix. Gauleiter Handke abgehauen. Mit nem Fieseler Storch. Ein großes Schwein, wie dieser Dr. Fröhlich ein kleines Schwein ist. Alles Schweine. Jeder in Uniform is n Schwein. Du mit deinem dämlichen Kriegsspiel. Der Krieg ist aus. Verstehste, aus. Längst. Aus. Vorbei. Futschikato. Wir haben ihn verloren, total. Gott sei Dank.
    Er stand da, wie soll ich sagen, guckte mich an, nicht entsetzt, auch nicht mal fragend, nein, dösig. Und dann hab ich meinen Regenmantel genommen und bin raus. Ich bin durch die zerbombten Straßen gelaufen, lange, kann im Laufen am besten nachdenken. Das war mal ne schöne Stadt, und die lag nun in Trümmern, Schutt und Asche, und ich dachte: richtig so, und ich dachte dann: vielleicht ist das mit den Juden doch Feindpropaganda. Vielleicht stimmt das so nicht. Auch Fotos können gestellt werden. Nein, nicht so. Es waren Haufen voller Leichen, Gruben voller Leichen, verrenkte, ausgemergelte Körper, durcheinander lagen sie, Füße neben Köpfen, kahle Köpfe, Augenhöhlen, Schädel. Man will es nicht glauben. Aber dann dachte ich an die Juden, die ich kannte. Die waren verschwunden. Einige vor dem Krieg, andere, meist ältere, während des Krieges. Ich dachte an Frau Levinson. Das war eines Morgens 1942. Großneumarkt. Dort ist die Joseph-Herz-Levy-Stiftung gewesen. Ein Stift für bedürftige Juden.
    Lena Brücker war auf dem Weg in die Lebensmittelbehörde, da sah sie vor dem Stift zwei Militärlaster stehen. Die alten Leute standen mit Taschen und kleinen Pappköfferchen in einer Schlange und wurden auf die Lastwagen geschoben. Sie entdeckte Frau Levinson, die Witwe des Kurzwarenhändlers Levinson. Ein SS-Mann nahm ihr den Koffer ab, als sie auf den Laster stieg, von zwei behandschuhten Händen nach oben gezogen. Frau Levinson winkte ihr, schon auf dem Laster stehend, zu, so wie man winkt, wenn man wegfährt, aber verstohlen. Frau Levinson war damals 76 und trug den kleinen schwarzen Samthut, mit dem man sie immer sah. Lena Brücker hatte zurückgewinkt, verstohlen, so verstohlen, daß sie sich danach, auf ihrem Weg zur Arbeit, schämte. Und sie hatte sich natürlich gefragt, wohin die Leute kommen würden. Und jeder ahnte, irgendwo in den Osten, in Konzentrationslager. Dort verschwanden sie. Der Osten war weit. Lebensraum, das war der Osten.
    Es gab einen Eisenbahner, einen Heizer, der hieß Lengsfeld, der war früher auf Elbschleppern gefahren. Er wohnte in der Brüderstraße und war Anfang des Krieges zur Reichsbahn verpflichtet worden. Den traf Lena Brücker einmal auf der Straße, und da erzählte er ihr, daß täglich Güterzüge mit Menschen in den Osten rollten. Aus den Zügen war nichts zu hören. Manchmal, wenn die Züge auf einem Güterbahnhof hielten, konnte man Hände sehen, die aus den Luftluken der Viehwaggons gesteckt wurden. Die Hände bettelten um Brot und Wasser. Und dann. Was und dann? Und dann lagen an dieser Eisenbahnstrecke immer wieder Schuhe und Gebisse. Gebisse? Ja. Aber wieso? Keine Ahnung, sagte der Heizer. Sie werfen während der Fahrt ihre Gebisse aus den Waggons. Aber warum? Keine Ahnung, sagte der Heizer.
     
    Es hatte aufgehört zu regnen, und sie war nach Hause gegangen. Sie wollte mit Bremer reden. Sie wollte versuchen, ihm alles zu erklären.
    Sie schloß die Wohnungstür auf. Er stand nicht im Korridor, saß nicht mit muulschem Gesicht am Küchentisch, nicht wütend im Wohnzimmer, nicht im Schlafzimmer. Sie lief zur Kammer. Die war leer. Im Schrank fehlte der graue Anzug ihres Mannes. Dafür hing da, säuberlich gebürstet, die Uniform von ihm, mit diesem ulkigen Reiterabzeichen. Sie suchte nach einem Zettel, einem Brief, einer Nachricht. Nichts.
    Was sie peinigte, war sonderbarerweise nicht, daß er weggegangen war, sondern daß sie nicht mehr mit ihm darüber hatte reden können, warum sie ihm die Kapitulation verschwiegen hatte. Vor allem hätte sie ihm sagen wollen, daß sie ihm mit ihrem Verschweigen nicht geschadet habe. Er hätte nicht viel früher gehen können, selbst jetzt konnte er noch aufgegriffen werden, konnte in Gefangenschaft kommen, denn bei einer Kontrolle durch die Militärpolizei mußte er seine Entlassungspapiere vorzeigen. Er hatte sich ja nur selbst entlassen. Andererseits wird er in seinem grauen Anzug nicht auffallen. Die ranghohen

Weitere Kostenlose Bücher