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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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Kurzschluß war beseitigt. Pirx spürte salzigen Blutgeschmack im Mund. Er schnellte wie ein Taucher vom Sprungbrett nach vorn, aber er landete nicht, wie beabsichtigt, auf seinem Sitz, sondern schoß über die Lehne hinweg und prallte mit fürchterlicher Wucht gegen die Decke.
       Im gleichen Augenblick, als er zum Sprung ansetzte, hatte der bereits tätige Automat des Reduktors die Triebwerke ausgeschaltet. Der Rest der Schwerkraft war verschwunden. Das Raumschiff bewegte sich jetzt nur noch durch den eigenen Schwung wie ein Stein den Felsenruinen des Timocharis entgegen.
       Pirx war von der Decke zurückgeprallt. Der blutige Speichel, den er ausgespien hatte, schwebte neben ihm wie silbrigrote Bläschen im Raum. Pirx wand sich verzweifelt, streckte die Hände nach der Sessellehne aus, holte den ganzen Tascheninhalt hervor und warf ihn hinter sich.
       Mit diesem Rückstoß glitt er langsam voran, schwebte immer tiefer. Seine Finger, die so ausgestreckt waren, daß die Sehnen zu reißen drohten, schabten mit den Nägeln über das Nickelrohr, krallten sich fest und ließen nicht locker. Er duckte sich, zog den Kopf ein wie ein Akrobat, der auf einem Geländer einen Handstand machen will, erwischte einen Gurt, rutschte daran herunter, wickelte ihn um den Leib, den Karabinerhaken nahm er zwischen die Zähne — er hielt. Nun die Hände auf die Griffe und die Beine auf die Pedale!
       Ein Blick auf den Höhenmesser: achtzehnhundert Kilometer bis zur Mondoberfläche. Würde er es schaffen, rechtzeitig zu bremsen? Ausgeschlossen, bei fünfundvierzig Kilometern pro Sekunde! Er mußte abbiegen — aus dem Sturzflug einen Ausfall machen —, nur so war es zu schaffen!
       Er schaltete die Düsen für das Wendemanöver ein — 2. g, 3 g, 4 g! Wenig! Sehr wenig!
       Pirx gab volle Zugkraft für das Wendemanöver. Die Scheibe auf dem Bildschirm, die wie Quecksilber leuchtete und bisher festgemauert zu sein schien, erbebte und begann immer rascher zu sinken. Der Sitz gab unter der wachsenden Körperlast quietschende Geräusche von sich. Das Raumschiff beschrieb dicht über der Oberfläche des Mondes einen Bogen mit großem Radius — der Radius mußte so groß sein, denn das Schiff flog mit ungeheurer Geschwindigkeit. Der Griff war nicht mehr weiter zu bewegen. Pirx wurde mit furchtbarer Gewalt gegen die schwammartige Lehne gepreßt, ihm ging die Luft aus, denn die Kombination war nicht mit dem Sauerstoffkompressor verbunden. Er fühlte, wie sich seine Rippen bogen, graue Flecke tanzten vor seinen Augen. Den Blick auf den Radarhöhenmesser gerichtet, wartete er auf das Blackout. Im Fensterchen zeigten sich kleine Zahlen, eine Zeile löste die andere ab: 990 — 900 — 840 — 760 Kilometer...
       Obwohl Pirx wußte, daß er mit voller Kraft flog, versuchte er den Griff noch weiter zu drücken. Er führte eine Wendung aus, auf engstem Raum, verlor aber trotz alledem an Höhe. Die Zahlen wurden kleiner, obschon langsamer als vorhin. Das Schiff lag immer noch im sinkenden Teil des großen Bogens. Pirx starrte unverwandt auf das Trajektometer.
       Wie immer, wenn sich das Raumschiff in der Gefahrenzone eines Himmelskörpers befand, zeigte die Scheibe des Geräts nicht nur die Flugkurve des Projektils und ihre mutmaßliche, schwach angedeutete Verlängerung, sondern auch das erhabene Profil des Mondes, über dem sich das ganze Manöver abspielte.
       Beide Kurven — die des Fluges und die der Mondoberfläche — liefen fast zusammen. Ob sie sich schnitten?
       Nein. Aber der Bauch dieses Bogens war eine Asymptote. Es stand nicht fest, ob das Schiff dicht über der Scheibe durchschlüpfen — oder aufprallen würde. Das Trajektometer arbeitete mit einer Fehlerabweichung von sieben bis acht Kilometern, und Pirx konnte nicht voraussagen, ob die Kurve drei Kilometer über den Felsen verlaufen würde — oder...
       Ihm wurde schwarz vor Augen — die 5 g taten ihre Wirkung. Das Bewußtsein verlor er nicht. Er lag da, blind, umspannte die Hebel, fühlte dabei, wie die Amortisatoren des Sitzes allmählich nachgaben. Er glaubte nicht, daß er verloren war. Irgendwie konnte er nicht daran glauben. Er war nicht imstande, die Lippen zu bewegen, also zählte er nur in Gedanken: einundzwanzig — zweiundzwanzig — dreiundzwanzig — vierundzwanzig...
       Bei fünfzig konnte er sich der Vorstellung nicht erwehren, das sei nun schon der Zusammenstoß — wenn überhaupt, so müßte er nun erfolgen. Trotzdem

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