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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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Zahlenspielereien gelingt ihm die Einordnung phantomatischer Phänomene in lebensweltliche Zusammenhänge einer möglichen Zukunft. Gern spielt er dabei mit möglich-wahrscheinlichen bis grotesken Erfahrungen seiner Figuren, die die geltenden Kategorien tradierter Wirklichkeit nachhaltig erodieren. Während also das Gros der angloamerikanischen Autoren in den 60er Jahren, unbeeindruckt von der »New Wave«, seine Fans noch immer mit humanoiden Robotern begeisterte und astronautische Kreuzritter in die entlegensten Winkel des Alls expedierte, um mit dem Laserschwert Aliens jeder Art zu missionieren, hatten Lems Helden ganz andere Sorgen.
       Einer dieser Helden ist Hal Bregg, der in dem Roman Transfer nach zehn Bordjahren und 123 Erdenjahren heimkehrt, um eine Erde vorzufinden, auf der seine Vorstellungen von Realität ihre Gültigkeit verloren haben. So versucht er, wider ausreichende Hinweise, in einer phantomatischen Erlebniswelt durch einen gewagten Sprung in vermeintliche Fluten einer Frau das Leben zu retten: »Ich spürte nichts außer einem starken Luftstoß und landete in einem geräumigen Saal auf nur leicht eingeknickten Knien, als wäre ich höchstens aus einem Meter Höhe herabgesprungen. Ich hörte ein chorähnliches Gelächter. Ich stand auf einem weichen, plastartigen Boden, rundum gab es eine Menge Leute, manche hatten noch durchnäßte Kleider. Sie hatten die Köpfe gehoben und brüllten vor Lachen. Ich folgte ihnen mit dem Blick, und es war unheimlich. Keine Spur von Wasserfällen, Felsen, afrikanischem Himmel« (Lem 1976, 99).
       Was Hal Bregg zu seinem absurden Sprung bewogen hat, ist die perfekte Illusion der phantomatischen Unterhaltungswelt, die suggestiver und stärker war als seine Ratio, denn schließlich war ihm der illusionäre Charakter ja bekannt. Die Zeugen des Vorfalls können freilich lachen, da sie über historische Erfahrung verfügen, die ihnen eine Unterscheidung erlaubt, die die Wahrnehmung nicht mehr zu leisten vermag. Für Hal Bregg jedoch, dem diese historische Erfahrung völlig fehlt, wird die neue Welt, auf die er zurückgekehrt ist, zu einem Vexierbild. So erweisen sich Berge plötzlich als Häuser, Wolken als Projektionen, und was er »zuerst für ein Fenster hielt, war selbstverständlich ein Fernsehschirm« (Lem 1976, 52).
       Von Doktor Juffon erfährt er schließlich den Grund für diese technisch aufwendigen Illusionen, die sich infolge der weitreichenden Umformung von Mensch und Welt als notwendig erwiesen haben: »Natur erträgt keine Leere: andere Elemente mußten an diese Stelle treten« (Lem 1976, 74). Die allgegenwärtigen artifiziellen Wirklichkeiten, auf die Hal Bregg trifft, haben also schlicht die Funktion, den Verlust der natürlichen Wirklichkeit zu kompensieren. Und das betrifft nicht nur die Natur im Sinne einer natürlichen Umwelt, sondern auch, wie die phantomatischen Erlebniswelten zeigen, Abenteuer und Risiken, die der Mensch bislang tatsächlich und unmittelbar wagen und erleben konnte. Die Kompensation wird zudem erleichtert, weil analog zu den uneigentlichen Wirklichkeiten jener Welt der Mensch durch einen Eingriff ins Vorderhirn einiger seiner anthropologischen Spezifika beraubt wurde, die bislang sein Mensch-Sein wesentlich geprägt haben. Diese »Betrisierung«, so der Name des gravierenden Eingriffs, hinterläßt uneigentliche Menschen ohne Aggressionen, Mut und Neugier, Menschen, deren emotionale Aneignung der Wirklichkeit operativ reduziert worden ist.
       Lem präsentiert in Tr ansfer also eine Welt, in der einige Möglichkeiten der zentralen und peripheren Phantomatik als Regulativ genutzt werden, um der menschlichen Zivilisation eine bis dahin unbekannte Stabilität zu garantieren. Hal Bregg und andere Astronauten, die von längeren Expeditionen aus dem All zurückkehren, werden von dieser Gesellschaft freilich als Bedrohung empfunden. Als Nicht-betrisierte verfügen sie über inzwischen antiquierte Emotionen, Aggressionen und eine Risikobereitschaft, die für ihre astronautischen Berufe einst wichtige Voraussetzungen waren, jetzt jedoch die künstliche Stabilität der Gesellschaft gefährden. Gerade der Verlust jener Eigenschaften hat die totale Befriedung der Welt ja erst ermöglicht. Doch zugleich wurden auch Abenteuerlust, Erfahrungshunger und Wissensdurst soweit reduziert, daß sie in den phantomatischen Erlebniswelten leicht zu befriedigen sind. Nach seinem mutigen wie überflüssigen Sprung und weiteren Erlebnissen

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