Die Entscheidung der Hebamme
Gemahlin.
Marthe bekam in dieser Nacht kaum ein Auge zu. Die Gedanken wirbelten ihr nur so durch den Kopf, und sie konnte es nicht erwarten, die vor ihr liegenden dringenden Angelegenheiten in Angriff zu nehmen.
Sobald das erste Anzeichen der Morgendämmerung durch das Fenster zu sehen war, stand sie auf. Sie weckte die Magd, die mit ihr und den Kindern in ihrer Kammer schlief, wenn Christian nicht da war, ließ sich ankleiden und ging hinab in die Halle.
Dann schickte sie Georg und David zum Dorfältesten Josef und zu Pater Sebastian, um sie mit höflichen Worten auf die Burg zu bitten. Peter schickte sie mit dem gleichen Auftrag zu den Fuhrleuten Hans und Friedrich.
Ein Augenblick des Wartens blieb ihr noch. Sie lenkte die Schritte in die Kapelle, wo Hilbert gerade sein Morgengebet beendet hatte.
»Würdet Ihr gemeinsam mit mir beten, um Gottes Segen für die glückliche Ankunft der vielen armen Seelen zu erbitten, die hierher unterwegs sind?«, fragte sie. Hilbert zögerte nicht einen Augenblick und kniete neben ihr nieder.
Nach einem kurzen, aber inbrünstigen Gebet um das Gelingen ihres Vorhabens lief Marthe auf den Hof und bat Reinhard, der sie bereits erwartete, das Eisen schlagen zu lassen, mit dem das Dorf in Notfällen alarmiert wurde. Trotz des Silberreichtums besaß noch keine der drei Christiansdorfer Kirchen eine Glocke, die sie hätten läuten können.
Zum Glück war ihr Ort bisher von den Feuersbrünsten verschont geblieben, die unausweichlich jede größere Ansiedlung einmal heimsuchten. Doch wegen des mittlerweile schon legendären Rufes des Christiansdorfer Silbers mussten sie immer wieder Angriffe von Diebesbanden abwehren, bei denen die Bewohner Schutz auf der durch Wall und Graben gesicherten Burg fanden.
Marthe hatte gerade noch den richtigen Zeitpunkt abgepasst, bevor die Menschen an ihr Tagwerk gingen und die Bergleute ihre Gruben befuhren, wo sie bis zum Abend nichts mehr von dem mitbekommen würden, was im Dorf geschah.
Mit erschrockenen Gesichtern kamen die Christiansdorfer auf den Burghof gelaufen und fragten sich, was wohl geschehen sein mochte und welche Gefahr ihnen drohte.
Die beiden Fuhrleute trafen als Erste von den fünf angesehenen Männern ein, die Marthe und Lukas zu sich gebeten hatten, den Bergmeister eingeschlossen.
Mit kurzen Worten weihte sie sie ein und trug ihnen ihr Anliegen vor.
»Ihr könnt auf uns zählen«, versicherte Friedrich, der ältere der beiden Brüder, zu ihrer Erleichterung. »Auch wenn ich geglaubt hatte, es mir auf meine alten Tage irgendwann am warmen Herd gemütlich machen zu können …«
Wehmütig seufzte er auf und strich sich über den kahlen Kopf, doch sein Bruder hieb ihm kräftig ins Kreuz. »Du würdest dich zu Tode langweilen. Komm, lass uns noch einmal etwas Großes unternehmen, wie in alten Zeiten, bevor wir endgültig zu alt sind, um den Fuß aus dem Dorf zu setzen.«
Nacheinander folgten der Bergmeister, dessen ruhige Gelassenheit Marthe ermutigte, der windige Dorfschulze und als Letzter der Pater mit sauertöpfischer Miene.
Mittlerweile war der Hof voll von Menschen, die aufgeregt darüber diskutierten, warum wohl Alarm geschlagen worden war.
Marthe gab Lukas mit einem Nicken ein Zeichen. Er stieß auf zwei Fingern einen gellenden Pfiff aus, und die Gespräche verstummten schlagartig. Mit Lukas’ Hilfe kletterte sie auf ein kleines Fass, das der junge Christian für sie dorthin gerollt hatte, damit sie von allen gesehen und gehört werden konnte.
Es war immer noch kühl an diesem Maimorgen, doch genau in diesem Augenblick brach der erste Sonnenstrahl durch die Wolken. Ein schwacher Wind wehte und trug Marthes Worte über den Burghof.
»Es gibt Nachrichten vom Krieg, die uns alle betreffen«, begann sie, und spätestens nach diesen Worten hätte man eine Nadel fallen hören können. Nur das Wiehern eines Pferdes zerschnitt die plötzlich eingetretene Totenstille.
»Die Gruben und Schmelzhütten am Rammelsberg sind zerstört, der Bergbau dort auf nicht absehbare Zeit zum Erliegen gebracht!«, rief sie. Ihre Worte lösten vor allem unter den Familien bestürzte Rufe aus, die einst aus dem Harz gekommen waren, um in Christiansdorf nach Silber zu schürfen. Etliche der Zuhörer bekreuzigten sich und sprachen ein Gebet für ihre Verwandten.
»Ritter Christian ist mit vierhundert Männern, Frauen und Kindern von dort auf dem Weg hierher«, fuhr sie fort. »Diese Menschen haben durch den Krieg alles verloren. Unter ihnen
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