Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
geschehen?
Es lag lediglich ein paar Tage zurück und doch schien es, als würde seither die Welt auf dem Kopf stehen.
Norby schob sich näher an den niedrigen Türdurchgang heran und spähte in den angrenzenden Raum. Eine Frau mit geschorenem Kopf stand vor dem Bett – mit dem Rücken zu ihm – und streifte sich gerade das Kleid von den Schultern. Zum Vorschein kam ein dünner, knochiger Körper. Sie streckte die Arme, sie gähnte – und ansatzlos begann sie zu weinen. Ein heftiges Schluchzen brachte sie zum Erzittern.
Norby trat an sie heran, geräuschlos, die hervortretenden Knochen ihrer Schulterblätter im Blick. In einem anderen Moment, an einem anderen Tag hätte er wohl Mitleid empfunden, aber nicht jetzt, nicht an diesem Tag. Mit der Linken wirbelte sie an der Schulter herum, schrill ihr Aufschrei, voller Entsetzen. Ein kurzer Stoß und sie lag auf dem Bett.
»Ganz ruhig.« Lässig hielt er das Messer in die Höhe.
Vor Schreck geweitete, mit Tränen gefüllte Augen starrten ihn an. Sie schrie immer noch, ein hoher lang gezogener Ton, den er unter seiner Haut zu fühlen meinte. Wiederum mit der Linken versetzte er ihr einen Schlag auf die Wange – und sofort verstummte sie.
»Ganz ruhig«, meinte er abermals.
»Bitte nicht«, stammelte sie, »bitte tu mir nichts an.«
Er griff nach der schmutzigen Decke und bedeckte damit ihre Blöße.
Das schien sie ein wenig zu beruhigen, wenngleich nach wie vor blanke Angst aus ihrer Miene sprach.
Norby beugte sich ein wenig zu ihr herab. »Bernina.« Eindringlich presste er das Wort über die Lippen.
»Was?«
»Du kennst eine Frau namens Bernina?«
»Was?« Wirr verzerrte sich das schmale Gesicht.
Norby setzte die Klinge an die Kehle der Frau. »Sie war hier.«
Sie schluckte. Der Stahl drückte sich in ihre Haut.
»Ja, ja«, zischte sie schließlich.
»Ist sie am Leben?« Erneut presste er die Worte förmlich aus sich heraus.
»Ich … ich weiß nicht … «
»Wo ist sie?«
Tränen klebten auf ihren Wangen. Fieberhaft überlegte sie, ob sie die Wahrheit äußern oder sich lieber eine Geschichte ausdenken sollte.
»Wo zum Teufel ist sie?« Schneidend hatte er seine Frage ausgesprochen. »Wo?«
Fast ebenso leise kam die Antwort: »Nicht weit von hier.«
Er zog die Klinge zurück.
»Nicht weit«, wiederholte die Frau sofort. »Auf der Insel. Das ist ein Viertel, das nicht weit … «
»Da finde ich Bernina?«, unterbrach er sie heiser.
»Es sind nur ein paar Minuten von hier.«
»Bernina … «, sagte er, mehr zu sich als zu ihr.
»Dort sah ich sie. In dem Haus eines gewissen von Mollenhauer.«
»Von Mollenhauer?« Der Name sagte ihm nicht das Geringste.
»Ich kann Ihnen erklären, wie Sie dorthin gelangen.«
»Worauf wartest du dann noch? Raus mit der Sprache.«
Ihre Stimme zitterte nicht mehr so sehr, gewann an Festigkeit. Es zerrte an Norbys Nerven, dass er der Fremden nicht trauen konnte – aber mehr als sie hatte er nicht.
Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, stürmte er los, hinaus aus dem Zimmer, verfolgt von dem erleichterten Blick der jungen Frau, die sich unter der Decke zusammenrollte wie ein kleines Kind. Von Neuem strömten die Tränen über ihr Gesicht. Sie weinte, weinte um sich und um Lorentz Fronwieser, dem einzigen Halt, den es in ihrem Leben gab. Sie hatte keine Hoffnung für Lorentz, er musste tot sein, ermordet von den beiden Fremden, sie spürte es tief in ihrem Inneren.
Sie heulte noch, als die donnernden Kanonen wieder mit ihrem Todeslied einsetzten und sie sich vor Hilflosigkeit mit den Zähnen in der alten kratzigen Decke verbiss, bis sie das Gefühl hatte, es nicht mehr an diesem Ort aushalten zu können, als würde das Dach des Hauses über ihrem Kopf einstürzen. Vielleicht war Lorentz noch nicht tot, versuchte sie sich nun einzureden, so vehement, wie sie zuvor vom Gegenteil überzeugt gewesen war.
Nils Norby hatte die Frau schon fast vergessen, als er im zerbrechlichen Licht des neuen Tages die Straßen entlanghetzte, von niemandem bemerkt. In den Häusern ringsum wurde weiterhin der Atem angehalten. Gewisperte Stoßgebete reihten sich aneinander, es herrschte das große Schweigen der Furcht.
Bald war er am Ziel angelangt, an jenem Gebäude, das ihm die unbekannte junge Frau beschrieben hatte. Es gab das Haus also tatsächlich. Alle Vorsicht ließ er außer Acht, Ungeduld riss an seinem Herzen, seine Lungen bebten von dem Lauf. Er prallte gegen die Vordertür, die von innen verriegelt worden war.
Nun doch
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