Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Gunst des Momentes genutzt und sich die Augenbinde vom Kopf gerissen. Verwirrt blickte er drein, allerdings nur für Sekundenbruchteile, dann rannte er los, steifbeinig, und doch mit erstaunlicher Flinkheit.
»Los! Hinterher!«, zischte einer der Fremden.
Norby jedoch versperrte bereits die Tür mit seiner großen, breitschultrigen Gestalt. »Erst sollten wir uns unterhalten«, meinte er gelassen.
Ein Augenblick verstrich.
Dann gingen die Männer zum Angriff über. Wehende Mantelschöße, verbissene Gesichter. Einer von links, einer von rechts. Dem Degen des einen konnte Norby ausweichen und ihm mit dem gebogenen Eisen einen Hieb auf den Kopf versetzen. Der zweite Mann hatte mehr Erfolg. Ein Schlag mit der Pistole, die Norbys Schulter traf und seine Beine einknicken ließ. Rücklings fiel er auf die Dielen, sein Widersacher setzte mit einem weitem Sprung über ihn hinweg, nach draußen auf den Gang. Die Sohlen der schweren Stiefel polterten in schneller Abfolge, wurden leiser, waren gar nicht mehr zu hören.
Norby schnellte hoch, in Erwartung eines weiteren Angriffes durch den zweiten Mann. Doch der lag noch immer regungslos auf dem Boden. Blut strömte aus einer Wunde an seinem Kopf und bildete eine kleine Pfütze. Er würde nie wieder jemanden angreifen.
Norby wandte sich um, im Begriff, die Verfolgung aufzunehmen – verharrte allerdings an Ort und Stelle.
War da nicht ein Geräusch aus dem Keller nach oben gedrungen? Stimmen? Norby saugte die Luft ein.
Die offene Luke.
Er hob das Messer auf, steckte es hinter den Gürtel und behielt nach wie vor den eisernen Haken in der Hand. Mit der anderen griff er nach der Kerze. Ein paar schnelle Schritte und wieder sah er hinab in die schwarze viereckige Öffnung.
Die Leiter ächzte, als er darauf hinunterstieg. Unten angekommen, spürte er einen leichten Luftzug. Die Kerzenflamme erzitterte. Er erkannte rasch, dass man hier für ein System zur Belüftung gesorgt hatte. Das war kein einfacher Keller zur Lagerung von Vorräten.
Der Geruch von Pulver wurde stärker, füllte die Luft. Erst vor Kurzem mussten hier Schüsse gefallen sein.
Erneut Stimmen, ein Raunen.
Da war etwas. Auf dem Boden.
Norby ging weiter. Unter seinen Sohlen knirschte Sand.
Ja, da lag etwas. Ein Stiefel.
Nein, es waren zwei.
Erst jetzt erkannte er, dass in den Stiefeln ein Mann steckte, der flach auf der Erde ruhte, die Arme seitlich weggestreckt. Ein wabbeliger Bauch, ein breites bärtiges Gesicht. Tot. Seine Brust war blutgetränkt. Norby hatte ihn nie zuvor gesehen. Er trat neben die Leiche und sah sich im Raum um. Seine Finger krampften sich um das Eisen. Regale mit Büchern. Zwei Hocker. Er hob die Kerze höher. Milchiger Lichtschein streifte zwei Gestalten, die etwas abseits lagen, an Händen und Füßen gefesselt. Eine davon war auffallend klein, die andere größer, von schlankem Wuchs.
»Nils«, hörte Norby seinen eigenen Namen. Er wusste nicht, was ihn mehr in Überraschung versetzte: die vertraute Stimme, die dieses eine Wort gesprochen hatte, oder die Tränen, mit denen sich seine Augen füllten.
»Mein Gott«, keuchte er. Erleichterung, Glück, Erlösung, Ungläubigkeit, alles zugleich erfasste ihn, und zum ersten Mal seit scheinbar langer Zeit fiel von ihm ab, was ihm schwer auf den Schultern gelastet hatte.
Er hastete zu der Frau, die ihm entgegensah, und er schämte sich nicht dafür, dass er weinte. Rasch stellte er die Kerze auf dem Boden ab. Ich sah dich, wollte er sagen, ich sah dein Gesicht in größter Todesangst, völlig verzweifelt, ich sah dich in einem Traum, in einer Vision, ich weiß es selbst nicht … Doch kein einziger Laut kam ihm über die Lippen. Schnell zerschnitt er ihre Fesseln, sogleich jene von Baldus, dessen struppiger Haarschopf von Blut verkrustet war. Der Knecht schenkte ihm ein dankbares Nicken, dann nahm Norby ihn nicht mehr wahr – weder ihn noch sonst etwas, nur noch Bernina, die er an sich zog, an sich presste, immer fester.
»Nils«, sagte sie erneut, leise, ihre Lippen an seinem Haar, an seinem Ohr. Am liebsten hätte er aufgeschrien, all seiner Erleichterung mit einem urwüchsigen Schrei der ganzen Welt kundgetan.
Doch die Stille in diesem unterirdischen Gemäuer wurde jäh zerfetzt. Ein einzelner Donnerschlag, rasch gefolgt von vielen weiteren, die sich zu einem einzigen urgewaltigen Dröhnen vermischten. Die Kanonen hatten ihr Schweigen beendet, das Töten wurde fortgesetzt.
Nils und Bernina hörten nichts davon. Nicht jetzt,
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