Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
nach den Verletzten in der Wohnküche zu sehen, ein Talglicht in der Hand, eine leichte Decke um die Schultern. Sie kühlte hier eine heiße Stirn, gab dort Wasser zu trinken, betastete Pulsadern.
Anschließend huschte sie auf nackten Sohlen zurück ins Bett, wo sie von Norbys Armen empfangen wurde, der jedes Mal wach war, wenn sie zurückkam. Sie flüsterten miteinander, aber nicht viel, es ging ihnen einfach darum, zusammen zu sein, hier, in ihrem Schlafzimmer im ersten Stock, und all das, was geschehen war, hinter sich zu wissen.
Bernina ließ in ihrem Kopf noch einmal die Gespräche mit den anderen ablaufen, diese ruhig geführten Unterhaltungen, die sie zurück in den Alltag holten, zurück in ihr Leben, dem sie sich so lange schon verschlossen hatte – wie es schien, bewirkten ausgerechnet die schrecklichen Tage von Freiburg, dass Bernina endlich wieder zu sich selbst fand. Die Heimkehr zum Petersthal-Hof war zugleich eine Heimkehr in ihr Innerstes.
»Auch du hast das Herz eines Wolfes«, drang Nils’ Stimme zu ihr, seine Lippen an ihrem Ohr.
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Aber ich. Sonst hättest du die letzte Zeit nicht durchstehen können, die Trauer, die Gefahren. Sonst hättest du es nicht überwunden.«
»Meinst du, es ist überwunden?«
»Wer kann das schon sagen? Wir machen eben einfach weiter. Was bleibt uns anderes übrig? Wir lassen unsere Wolfsherzen weiter schlagen.«
»Vielleicht entdecke ich meines ja gerade wieder.«
»Und ob du das tust.« Er küsste sie.
Einige Sekunden vergingen.
»Weißt du eigentlich, was du bist?« Bernina versetzte ihrem Mann einen spielerischen Klapps auf die nackte Brust. »Ein unglaublicher Dickschädel!«
»Ich? Weshalb?«, wollte er verdutzt wissen.
»Ich sehe dich vor mir, wie du da im Sattel gesessen hast. In jenem Moment, als diese Söldnerbande auf uns zuritt. Ich dachte, das darf nicht wahr sein. Wir müssen fliehen. Und dieser Nils Norby will das einfach nicht wahrhaben. Dieser Dickschädel!«
»Du hast mich eben von Anfang an durchschaut.« Er lachte leise. »Früher, im Krieg, verwechselte ich es mit Mut. Dabei war es immer schon mein Dickschädel, der mich in der Gewalt hatte. Ich habe es immer schon gehasst, klein beizugeben.«
»Das kann man wohl sagen«, meinte Bernina, auch sie mit einem leisen Lachen.
Ganz nahe waren sie sich, wie schon in der vorangegangenen Nacht, der ersten nach der Rückkehr auf den Hof, es gab nur sie beide, ebenso wie in Gotthold von Mollenhauers sonderbarem Reich. Sie spürten einander, spürten sich intensiv. Kurz bevor der Morgen graute, fiel Nils noch einmal in den Schlaf, leise und regelmäßig sein Atem.
Noch klebte die Dunkelheit vor dem Fenster, auch sie ein sonderbares Reich, die Heimat des Unerklärlichen, wie einst die Krähenfrau die Nacht genannt hatte. Bernina wehrte sich ein wenig dagegen, noch mal einzuschlafen, schließlich würde sie mit den ersten Sonnenstrahlen ohnehin aufstehen müssen, aber ihre Lider wurden schwer und schwerer.
Plötzlich flackerte ein Licht vor dem Fenster auf, ein Schemen, ein heller Fleck. Doch schon das erste Aufleuchten des neuen Tages? Berninas Lider flatterten, sie blinzelte, der Fleck schien Konturen anzunehmen, ein Gesicht entstand, unnatürlich weiß die Haut, verdorrt und schlaff, ein scharfer Lippenbogen spannte sich, in den sich die Zähne hineindrückten, der Nasenrücken ein schmaler Felsgrat, der sich zur Stirn hinaufzog. Ein Gesicht wie eine verwitterte Landschaft, eine tote Landschaft. Jäh sprangen die geschlossenen Augen auf, ein stechender Blick traf Bernina, die ihrerseits die Augen aufriss. Sie richtete sich blitzartig im Bett auf, einen spitzen Laut des Erschreckens auf den Lippen.
»Was ist los?« Nils war sofort bei ihr, sein Arm legte sich um ihre Schultern.
»Nichts«, antwortete sie kaum hörbar. »Nur ein Traum.«
Ihr Blick lag auf dem Fenster, hinter dem wieder nichts anderes zu erkennen war als die tintenschwarze Nacht, die Heimat des Unerklärlichen.
*
Am nächsten Vormittag stand Bernina in der Waschkammer des Petersthal-Hofes, die sich bis unter die niedrige Decke mit Dampf füllte und an deren Wänden Wassertropfen perlten. Trotz des Kopftuches sickerte ihr die Feuchtigkeit ins Haar. Von Berninas Stirn und Nase tropfte es immer wieder, der einfache Leinenstoff ihres Kleides klebte an ihren Brüsten, am ganzen Körper. Obwohl die Tür offen stand, nahmen ihr die Wolken die Luft zum Atmen, es roch und schmeckte nach
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