Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Talk und ätzendem Natron. Bernina beugte sich über den kupfernen Kessel, umklammerte mit beiden Händen den großen Holzbleuel und rührte um.
Beinahe den ganzen Tag würde sie damit zubringen müssen, die Mühe war es jedoch wert. Das Blut in der Kleidung der Verwundeten, der Schmutz von dem langen Weg aus Freiburg, alles wurde herausgewaschen, mit jeder Drehung des Holzes schienen die vergangenen Tage ein Stück weiter hinter ihr, hinter ihnen allen zu liegen.
Leider ging es Baldus noch nicht besser. Er hatte starkes Fieber bekommen, das sich nicht senken ließ. Bernina glaubte, es könne nur noch Jesuitenpulver helfen, das aus der Rinde eines fremden, weit entfernt wachsenden Baumes gewonnen wurde – und das es höchst selten gab und zudem überaus teuer war. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wo in der Nähe es möglicherweise aufzutreiben wäre. Ihre Sorge um den Knecht wurde jedenfalls nicht geringer.
Einen Tag später machten sich die Teichdorfer auf den Heimweg, entweder in den Ort oder zu ihren Höfen. Es wurde Zeit, Normalität aufkommen zu lassen und die liegengelassene Arbeit aufzunehmen. Überschwänglich verabschiedeten sie sich bei Bernina, während sie Nils Norby stumme Blicke schickten zum Zeichen der Dankbarkeit, dass er sie dazu bewogen hatte, gegen die Söldner aufzubegehren.
Lediglich ein Verletzter war übrig geblieben, der der Pflege bedurfte: Baldus. Untergebracht war er nicht mehr in der Wohnküche, sondern in einer Kammer, die für Berninas und Nils’ Tochter vorgesehen gewesen war. Stumm lag er auf dem von Nils gezimmerten Kinderbett, seine Füße ragten ein kleines Stück darüber hinaus. Meistens schlief er, manchmal war er wach und nahm ein paar Löffel Suppe oder Hirsebrei zu sich, Hunger schien er jedoch nie zu verspüren.
Kupferstein, der selbst ernannte Medicus von Teichdorf, erschien am Hof; jemand von der Bürgerwehr hatte ihm von der schweren Verwundung des Knechtes berichtet. Er beäugte den Gnom, untersuchte ihn, tatschte mit seinen großen Pranken an ihm herum, aber einen hilfreichen Rat wusste auch er nicht zu geben. Bernina hatte nichts anderes erwartet. Traurig blickte sie Kupferstein hinterher, als er unverrichteter Dinge zurück ins Dorf ritt. Sie hätte alles dafür gegeben, wenn ihre Mutter jetzt bei ihr gewesen wäre. Die Krähenfrau hätte eine Lösung gefunden, sie hätte sogar einen Toten zu neuem Leben erweckt, wie Nils gelegentlich sagte.
Lange lag Bernina in dieser Nacht wach. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab, um bei niemand anders als von Mollenhauer anzukommen. All seine Geheimnisse hatte er mit ins Grab genommen und in Momenten wie diesen nagte diese Tatsache an ihr. Was hatte von Mollenhauer über ihren Vater gewusst? Was hatte es mit der Schrift ihres Vaters, die nun für immer verloren war, auf sich? Dieser rätselhafte Gotthold von Mollenhauer. Oder Mentiri. Wie viele Namen mochte er im Laufe seines Lebens angenommen haben? Sie dachte an die Dinge, die er ihr über den Bibliothekar Jan Simons erzählt hatte, an seine Andeutungen, an diesen niemals zu durchschauenden Ausdruck auf seinem Gesicht. »Mentiri«, flu ̈ sterte Bernina in die Nacht, als könnte ihr allein dieser Begriff dabei helfen, auf die Lösung aller Rätsel zu kommen. Und sie beschloss, ihn in Gedanken wieder ausschließlich bei diesem Namen zu nennen: Mentiri. Aufgrund all seiner Lügen passte das am besten zu ihm. Ein Flunkerer, das war er in der Tat.
Sie hatte gar nicht gemerkt, wie der Schlaf über sie gekommen war, aber plötzlich schreckte sie daraus hoch, einige Sekunden völlig verwirrt, ihr Blick suchte das Fenster ab, diesmal jedoch war dort keine Fratze zu sehen. Langsam und behutsam, um Nils nicht aufzuwecken, stand Bernina auf. Sie legte sich eine leichte Decke um die Schultern und ging ins benachbarte Zimmer, obwohl es keinerlei Veranlassung dafür gab. Ihre Augen waren an die Dunkelheit gewöhnt und sie erkannte die Einzelheiten: die bleiche Haut des Knechtes, seinen wirren Haarschopf.
»Ich bin wach«, flüsterte er.
»Ich wollte nach dir sehen.« Mit einem Tuch wischte sie ihm über die Stirn – der Stoff war sofort schweißgetränkt.
»Raten Sie, von wem ich geträumt habe«, forderte er sie auf.
»Von Mentiri«, antwortete Bernina ohne Zögern, ohne Nachdenken.
»Ha!« Baldus lachte leise. »Richtig. Von diesem merkwürdigen Mentiri. Er stand neben meinem Bett und erzählte. Aber ich konnte die Worte nicht verstehen. Es war sonderbar. Als würde
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