Die Entscheidung liegt bei dir!
Beziehung finden. Und wenn sich dieses Maximum nicht einstellt, schweigen sie eine Zeit lang mürrisch, ziehen dann Scheidung und Neubeginn vor, weil sie an ihrem Überanspruch festhalten. So, als seien die anderen nur auf der Welt, um uns glücklich zu machen. Mit geradezu selbstzerstörerischer Wut basteln viele an ihrem Überanspruch, die ganze Welt müsse sich an ihren Kriterien ausrichten. Sie suchen ständig das Haar in der Suppe. Und viele setzen sich so lange kopfschüttelnd vor die Suppe, bis ein Haar hineingefallen ist.
Aber bei diesem Spiel verlieren alle. Denn Ideale haben eine hochgradig zerstörerische Spitze. Sie machen uns blind für das Mögliche, weil wir über Unerreichbares fantasieren. Wie Wohlstandsbürger, die ihren vollen Kleiderschrank anseufzen:
Etwas fehlt immer!
Diese Leute nehmen sich und ihre »suchende«, latent |202| unzufriedene Einstellung mit zu jeder neuen Aufgabe. Es ist erstaunlich, zu sehen, wie Leute von einer Firma zur anderen wechseln, permanent auf der Suche nach der »richtigen« Arbeitsstelle, immer auf der Jagd nach dem idealen Job, ohne zu sehen, dass sie selbst das eigentliche Problem darstellen. Und es ist erstaunlich, zu sehen, dass viele Menschen von einem Lebenspartner zum anderen wechseln (der meistens dem vorhergehenden überaus ähnlich ist), um ihn nach einiger Zeit wieder zu verlassen, »weil er doch nicht der Richtige war«. Sie vergessen, dass sie selbst das Defizit gleichsam mitbringen. Irgendetwas fehlt für sie immer. Das Glas ist immer halb leer. Aber das Paradies auf Erden wird für niemanden von uns gebacken. Wir sollten es dort lassen, wo es die Christen schon immer vermuteten: im Jenseits.
Niemand hat das Leiden am Ideal so charmant und treffend ausgedrückt wie der Berliner Publizist Kurt Tucholsky, der 1927 dieses Gedicht veröffentlichte:
Das Ideal
Ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn –
aber abends zum Kino hast dus nicht weit.
Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit:
Neun Zimmer – nein, doch lieber zehn!
Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf stehn,
Radio, Zentralheizung, Vakuum,
eine Dienerschaft, gut gezogen und stumm,
|203| eine süße Frau voller Rasse und Verve –
(und eine fürs Wochenend, zur Reserve) –,
eine Bibliothek und drumherum
Einsamkeit und Hummelgesumm.
Im Stall: Zwei Ponies, vier Vollbluthengste,
acht Autos, Motorrad – alles lenkste
natürlich selber – das wär ja gelacht!
Und zwischendurch gehst du auf Hochwildjagd.
Ja, und das hab ich ganz vergessen:
Prima Küche – erstes Essen –
alte Weine aus schönem Pokal –
und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal.
Und Geld. Und an Schmuck eine richtige Portion.
Und noch ne Million und noch ne Million.
Und Reisen. Und fröhliche Lebensbuntheit.
Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit.
Ja, das möchste!
Aber, wie das so ist hienieden:
manchmal scheints so, als sei es beschieden
nur pöapö, das irdische Glück.
Immer fehlt dir irgendein Stück.
Hast du Geld, dann hast du nicht Käten;
hast du die Frau, dann fehln dir Moneten –
hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer:
bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.
Etwas ist immer.
Tröste dich.
Jedes Glück hat einen kleinen Stich.
Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten.
Dass einer alles hat:
das ist selten. 1
|204| Glück im Unglück: Verteidigen wir die zweitbeste Möglichkeit, die Vizelösung, das Unvollkommene. Das Absolute ist – ebenso wie der Traum vom mühelosen Glück – nicht menschenmöglich. Beides ist nicht von dieser Welt. Deshalb ist »alles oder nichts« für uns keine praktikable Devise. Wer allein das Vollkommene will und das Glück im Unvollkommenen leugnet, macht sich nicht glücklich, sondern verrückt.
Dies ist kein Plädoyer gegen einen Wechsel des Arbeitsplatzes, des Lebenspartners, ja der gesamten Lebenssituation. Mancher sitzt jedoch einem Trugschluss auf: Er glaubt, durch einen Job-, Partner- oder Landeswechsel etwas Größeres oder Besseres zu finden, als er schon kennt. Er träumt von Lebenssituationen voller Befriedigung, Anerkennung und Wohlbefinden. Er packt seinen Koffer, verabschiedet sich vom Alten (nicht selten von seiner Umgebung beneidet) und wacht schließlich in einer anderen Situation auf – und da, neben ihm, ist das nämliche
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