Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
bekommt ja euer Futter.« Sie kraulte Gler den Hals. Dann machten sie sich an die Arbeit. Sie holten Heu und verteilten es an die hungrigen Tiere, dann schnappten sie sich zwei Holzeimer und gingen zum Brunnen hinaus. Der war mit einer windschiefen Hütte überbaut, die den Schacht vor Schnee, Laub und Getier schützte.
Kunar öffnete die Luke im Dach. Ein kleiner Eimer baumelte im Inneren an einem Seidenspinnerseil und er begann, diesen mit einer Kurbel hinunterzulassen. Er kurbelte den vollen Eimer wieder hinauf, ergriff ihn und schüttete den Inhalt in einen der vier Holzeimer.
»So einen alten Brunnen gibt es bei Jonas auf dem Hof auch. Ich frage mich, wie es ihm wohl geht …«, sagte Charlie besorgt.
»Es gibt keine Möglichkeit, um herauszufinden, ob Oden nun zur Erde reist und was er dort für Unheil bringt«, sagte Kunar und ließ den Eimer ein zweites Mal hinab. »Aber für mich sah Jonas aus wie ein Mann, der mit ungewöhnlichen Situationen umzugehen weiß.«
Er schüttelte bei der Erinnerung an sein Off-Road-Erlebnis den Kopf und lächelte.
»Jonas ist gut im Improvisieren und er ist erfinderisch. Der geht so schnell nicht unter.«
Charlie sah Kunar dankbar an. Er hatte recht.
Jonas war ein Überlebenskünstler, der immer irgendwie zurechtkam.
Kunars Miene verdunkelte sich.
»Hanna dagegen …« Er trat hilflos vor Wut gegen die Brunnenumrandung und griff nach der Kurbel. Doch noch bevor er diese berührt hatte, drehte sie sich plötzlich in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit von selbst und schleuderte den vollen Eimer gegen die Kurbelwelle! Kunar wurde klatschnass, schrie entsetzt auf und suchte fluchend das Weite.
»Was um der Götter willen, war denn das !«, brüllte er. Charlie brach in schallendes Gelächter aus. Unter Kunars giftigen Blicken versuchte sie eine Erklärung.
»Für mich sah das aus wie Magie. Und da ich unschuldig bin, gehe ich davon aus, dass du selbst dafür verantwortlich bist!« Als sie Kunars wutverzerrtes Gesicht sah, fügte sie jedoch schnell hinzu: »Es ist wie bei mir und Tora. Wut oder Unausgeglichenheit können enorme Energien freisetzen.«
Sie zeigte auf den Brunnen. Der Eimer schaukelte immer noch wild umher.
»Du hast an Hanna gedacht und gleichzeitig wolltest du den Eimer hochholen.«
Kunar bekam große Augen.
Magische Energie! Endlich hatte er erste Anzeichen für magische Fähigkeiten gezeigt!
Für Kunar war es wie ein Geschenk des Himmels. Obwohl er nicht die geringste Kontrolle über seine Fähigkeiten besaß, stand er dem Thema magische Kräfte auf einmal sehr aufgeschlossen gegenüber.
Später, als sie zu dritt im Stall zu tun hatten, erörterten sie Kunars magische Erweckung.
»Also, seine Fähigkeiten haben in jedem Fall etwas mit Wasser zu tun«, sagte Charlie und schichtete Eier aus den Nestern in einen geflochtenen Korb.
»Aber es könnte auch Luft sein«, überlegte Kunar enthusiastisch. »Vielleicht habe ich nur den Eimer zum Fliegen gebracht und das Wasser befand sich nur zufällig darin?«
»Eigentlich hast du doch die Kurbel bewegt«, mischte sich Tora ein. »Wenn es nur der Eimer war, hätte sich das Seil wohl kaum aufgewickelt, und wenn es nur das Wasser war, wäre der Eimer nicht mitgeflogen.«
Kunar kaute auf seiner Unterlippe herum.
»Da hast du wohl recht … Aber welche Kräfte benötigt man, um eine Kurbel zu betätigen?«
»Luft?«, murmelte Charlie, während sie die Nester noch einmal nach Eiern absuchte. »Also Feuer kann es wohl kaum sein, das können wir meiner Meinung nach ausschließen.«
»Und Bjarka schließe ich auch aus«, meinte Tora. »Oder hast du schon einmal etwas bewegt, Charlie?«
»Nur den Erdboden«, erinnerte sie sich und betrachtete Kunar entschuldigend. Er winkte ab.
»Verziehen und vergessen«, sagte er. »Ich habe ja nun selbst erfahren, dass Kräfte unter Wut ausbrechen können. Und du warst bei unserem Kampf sicherlich um einiges wütender.«
»Vielleicht ist es eine Kombination aus zwei Kräften?«, schlug Tora gut gelaunt vor. Diese Vorstellung beflügelte Kunars ohnehin schon entfesselte Phantasie.
Doppelkräfte? Das wäre mehr als er sich vorgestellt hätte. Nicht, dass er nicht davon geträumt hätte …
Charlie lächelte Tora dankbar zu. Sie unterhielten sich noch eine Weile, während ihnen die Arbeit im Stall ungewöhnlich leicht von der Hand ging.
Die Zeit auf dem Arnoldshof verging wie im Flug. Und obwohl es Charlie zur Weiterreise drängte, konnte sie eine gewisse Wehmut
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