Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
Eiche, saß ein Mann mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze, umringt von einer großen Schar Kinder. Auf ihrem Weg an den vielen Buden und Wagen vorbei glitt Charlies Blick immer wieder in seine Richtung. Er schien etwas zu erzählen.
Offenbar ein Thul! Einer jener Geschichtenerzähler, von denen Kapitän Brage berichtet hatte!
Die eigene Kapuze weit ins Gesicht gezogen, näherte sich Charlie der Kinderschar, die jetzt wild durcheinander schnatterte. Der Mann machte eine Handbewegung, worauf es mucksmäuschenstill wurde.
An einen Baum gelehnt beobachtete Charlie die Szene neugierig
»Mal sehen, was ich euch heute erzählen kann«, sprach der Thul. Seine Kapuze rutschte etwas nach hinten, und Charlie sah ein waches Augenpaar aufblitzen. Sie zog sich automatisch etwas zurück.
Er hatte sie entdeckt.
»Für eine gute Geschichte ist man niemals zu alt«, sagte der Thul und lächelte in ihre Richtung. Dann widmete er sich seiner Zuhörerschar, die begonnen hatte, ihm Wünsche zuzurufen.
»Die Geschichte über Fenrir! Dem ersten Fenriswolf!«, rief ein
älterer Junge. Alle stimmten zu.
»Ja«, sagte der Thul. »Das ist eine gute Geschichte. Doch die kennt ihr offenbar alle schon.«
Die Kinder murmelten und stießen sich gegenseitig an.
»Die Geschichte von Kendra und Leviathan«, vernahm Charlie eine zaghafte Stimme im Gemenge.
»Das klingt nach einer Liebesgeschichte «, sagte der ältere Junge verächtlich.
Charlie musste unwillkürlich lächeln.
Der Thul hob abwehrend die Hand.
»Nun mal immer mit der Ruhe. Wer, außer diesem entzückenden jungen Mädchen, kennt die Geschichte von Kendra und Leviathan?«
Das Gemurmel wurde wieder lauter, doch dieses Mal sahen sich alle schulterzuckend um.
»Nun, wenn das so ist …«, begann der Thul.
»Aber es ist eine Liebesgeschichte !«, protestierte der ältere Junge.
»Woher willst du das wissen?«, fragte der Thul. »Du kennst die Geschichte doch gar nicht.«
Der Junge zeigte verächtlich auf das Mädchen, als ob das Beweis genug wäre.
Das Mädchen sah ihn trotzig an.
»Ja, ich kann es nicht leugnen. Die Liebe kommt wohl auch darin vor«, sagte der Thul. Dann senkte er konspiratorisch die Stimme, beugte sich vor und sah in die Runde: »Es ist eine der verbotenen Geschichten, sollt ihr wissen! Aber es ist wohl ohnehin besser, dass ich euch die allseits bekannte Geschichte von Fenrir erzähle.«
Er zwinkerte dem kleinen Mädchen zu, das große Augen machte und sich plötzlich im Mittelpunkt neidischer Blicke befand. Es fühlte sich sichtlich unwohl in dieser Rolle.
Der ältere Junge rutschte unruhig auf seinem Platz umher.
»Verboten?«, fragte er ungläubig. »Weshalb?« Seine Neugier war stärker als der Drang, dem Mädchen überlegen zu sein.
Charlie grinste.
Er war gut, dieser Thul. Er würde ganz sicher die Geschichte von Kendra und Leviathan erzählen und alle – auch der Junge – würden gespannt lauschen.
Der Thul beugte sich noch weiter vor und flüsterte:
»Verboten … deshalb, weil sie in der alten Zeit spielt. In der Zeit vor der Zeit , um genau zu sein.«
Alle Kinder lauschten jetzt mucksmäuschenstill. Charlie musste sich anstrengen, um den Thul zu verstehen.
»In der Zeit, als unsere Vorfahren noch nicht auf Godheim lebten …«
Sogar Charlie hielt nun die Luft an.
»Hallo!« Tora stand plötzlich neben ihr und warf ihren langen, geflochtenen Zopf nach hinten.
»Scht!«, machte Charlie und zeigte auf den Thul. Dann gesellte sich Kunar zu ihnen.
»Was ist?«, fragte er.
»Der Thul erzählt irgendwas von der alten Zeit«, informierte Charlie sie.
»Es geschah vor vielen Tausenden von Jahren«, begann der Thul gerade.
»Es ist bestimmt nur eine Geschichte«, sagte Tora. »Sagen und
Legenden über die alte Zeit sind verboten.«
»Scht!«, machte Charlie wieder. Der Thul fuhr fort:
»Es gibt da so eine Idee, dass Mannaheim die Heimatwelt aller Menschen von Godheim und Vanaheim ist. Gehen wir doch einmal davon aus, dass diese Annahme stimmt, denn genau dort, auf Mannaheim, spielt unsere kleine Geschichte.«
Charlie, Tora und Kunar sahen sich verblüfft an.
Nur eine Geschichte?
Nun wollten sie mehr hören.
12. Kendra und Leviathan
A m Strand einer kleinen, einsamen Insel inmitten eines
riesigen Ozeans saß eine junge Frau, die über das glitzernde Meer in die untergehende Sonne blickte. Ein Segelschiff lag vor der Küste vor Anker.
Die Frau hieß Kendra. Sie hatte ihre schlanken Arme um ihre Beine geschlungen
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