Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
wollte. Aber Gler …«
Das Einhorn graste seelenruhig inmitten der Lichtung.
»Zum Glück ist er abgesattelt«, murmelte Kunar, doch die Unruhe war deutlich in seiner Stimme zu hören. Einhörner gehörten gewöhnlich zu jemandem.
Aber die Raben zogen weiter, offenbar ohne sich um Gler zu kümmern.
»Entweder waren das nicht Hugin und Munin, oder sie haben keinen Verdacht geschöpft«, flüsterte sie.
»Wir sollten wachsam sein«, warnte Kunar.
Es wurde eine lange Nacht. Bereits kurz nach Einbruch der Dunkelheit begannen Scharen von Nidhöggs jeden Winkel des Mörkveden zu durchkämmen. Sie kreisten stundenlang über der kleinen Lichtung am Fluss und kreischten sich Botschaften zu. Obwohl die Freunde Gler unter die überhängende Felswand gezogen und mit Reisig und Nadelzweigen getarnt hatten, war es ihnen schleierhaft, warum sie nicht entdeckt wurden. Dass sie nicht angegriffen werden konnten, dafür sorgte der Jordvätte, doch sichtbar hätten sie für die Nidhöggs durchaus sein müssen. Laut Kunar besaßen diese Wesen aus der Schattenwelt außergewöhnlich scharfe Sinne.
Die drei Freunde kauerten unter dem schützenden Stein und verharrten dort die ganze Nacht. Charlie war jederzeit bereit, sich und ihre Freunde zu verteidigen, doch offenbar – und das verstanden weder sie noch die Geschwister – schienen die Heerscharen von Nidhöggs sie nicht zu entdecken.
Als der Morgen graute, zogen die vampirähnlichen Wesen ab. Gler zitterte am ganzen Körper, doch er hatte sich mustergültig verhalten. Nun war er allerdings nicht mehr zu bändigen und buckelte befreit hinaus auf die Lichtung. Genau in dem Moment, als Gler sich ausgiebig wälzte und dabei wie ein Wildschwein grunzte, zogen wieder zwei schwarze Vögel heran.
Charlie hielt den Atem an!
Tora zwängte sich noch dichter an den Gesteinsbrocken und Kunar umklammerte seinen Bogen.
Die beiden Raben kreisten ein paar Mal über der Lichtung und ließen sich dann am gegenüberliegenden Ufer nieder. Im Anflug verwandelten sie sich, wuchsen unförmig und schritten dann als dunkle, bärtige Männer zum Fluss hinunter.
Gler hatte die Gefahr nun auch bemerkt. Mit einem Satz kam er auf die Hufe und stand wie aus Stein gemeißelt da – eine silberglänzende Statue, jeder einzelne Muskel angespannt.
Hugin und Munin sahen sich entspannt um, streckten sich und knieten sich am Wasser nieder, um zu trinken. Kurz darauf verwandelten sie sich wieder in Vögel und flogen davon. Die ganze Zeit über zeigten sie nicht ein einziges Mal eine außergewöhnliche Reaktion. Es war, als hätten sie Gler nicht einmal gesehen, geschweige denn Charlie, Tora oder Kunar.
»Als ob Schwarzelfen uns verborgen hätten«, überlegte Kunar später. Keiner von ihnen hatte eine Erklärung für dieses seltsame Ereignis.
Sie blieben fast eine Woche am Felsen. Der Fluss lieferte sauberes, klares Wasser und der Wald Nahrung. Außerdem besaßen sie noch genügend Vorräte vom Arnoldshof. Die Geschwister und Charlie waren sich einig, dass sie sich eine Weile von anderen Menschen fernhalten wollten.
Und was bot besseren Schutz als eine Lichtung, die außer einem Jordvätten noch weitere Vorzüge zu bieten hatte?
Doch ewig konnten sie natürlich nicht bleiben.
Sie hatten eine Mission.
Charlie träumte jede Nacht von der Feuersbrunst, die ein Dorf heimsuchte. Die Umgebung wurde deutlicher. Charlie erkannte Gesichter wieder – Menschen, die jede Nacht in ihren Träumen wiederkehrten. Dann wurde das Dorf von den Flammen verschlungen, und seine Bewohner liefen schreiend um ihr Leben, doch leider vergebens.
Charlie erwachte wieder einmal schweißgebadet, nur um erst viel später wieder einzuschlafen und in verwirrende Träume von grünen Steinen und Lichtelfen abzudriften, in denen ein mächtiger alter Baum mit silberglänzenden Blättern in der Sonne glitzerte.
Eines der libellenartigen Wesen flog irritierend nahe um ihren Kopf herum und kicherte ihr belustigt ins Ohr. Ärgerlich wedelte Charlie das menschenähnliche Insekt beiseite und erwachte durch ihre eigene Bewegung. Ihre Hand schwebte hoch über ihrem Kopf, als sie ihre Augen aufschlug. Vor Schreck ließ sie die Hand fallen und schlug sich selbst auf die Nase. Leise fluchend drehte sie sich um und schlief irgendwann ein. Ihr war, als würde sie es leise kichern hören …
Am nächsten Morgen beschlossen sie weiterzuziehen.
Sie wanderten den ganzen Tag, ohne auf eine neue Schutzstätte zu stoßen. Der Pfad entlang des
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