Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
zogen.
Kapitän Erik trug Kendra in seine Kajüte und gab ihr ein trockenes Gewand. Ab diesem Tag stand sie unter seinem Schutz und segelte auf einem Schiff über den Ozean ihres Vaters.
Welch eine Ironie!
Da Kendra ihren Namen und ihre Herkunft nicht zu kennen schien, nahm sich Erik ihrer erst einmal an. Er wollte sie mit in seine Heimat nehmen.
War es das, was sie wollte? Konnte sie auf diese Weise ein neues Leben beginnen?
Kendra blickte über das Meer. Noch war es nicht zu spät. Sie konnte einfach zurück ins Meer gehen …
Leviathans Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf – durchdringend und ernst sah er sie an – doch dann schob sich das Bild des Fürsten davor. Kendra schüttelte sich. Sie hatte ihre Wahl getroffen.
Sie segelte mit Eriks Männern, von denen einer nach dem anderen starb, in eine ungewisse Zukunft. Und obwohl die Krankheit an Bord bereits vor Kendras Auftauchen ausgebrochen war, begann die Besatzung ihr misstrauische Blicke zuzuwerfen. Sie brauchten einen Schuldigen. Und wer war diese Frau überhaupt, die so einfach mitten im weiten Ozean aufgetaucht war?
»Sie bringt Unglück! Eine Frau an Bord bringt Unglück!«, brüllte einer der Männer.
Ein furchtbarer Gedanke nahm Form an. Man hörte es tuscheln: Sie ist eine Hexe! Vom Teufel persönlich gesandt, um die Besatzung zu vergiften. Das trage eindeutig die Handschrift des Teufels.
Kapitän Erik rief seine Männer zur Ordnung und appellierte an ihren gesunden Menschenverstand. Als alles nichts half, drohte er ihnen. Er duldete keine Meuterei. Wer der Dame zu nahe kam oder sich abfällig äußerte, wurde ausgepeitscht. Nachdem der Kapitän ein Exempel statuiert hatte, verhielt sich die Mannschaft ruhig, doch unter der Oberfläche brodelte es. Kendra begann zu zweifeln.
Sah so ihr neues Leben aus?
Doch Erik sprach ihr Mut zu. Es waren nur noch wenige Tage bis zum Festland, und im Schutze seiner Kajüte erreichte sie ohne weiteren Zwischenfall den rettenden Hafen. Erik führte sie an Land.
Als Kendras Flucht bemerkt wurde, tobte Neptun vor Wut. Wie konnte ihm seine Tochter so etwas antun? Seine Wünsche und seine Befehle missachten? Ihn so demütigen? Sie hatte ihn vor seinen Gefolgsleuten und dem Fürsten, der sie heiraten sollte, bloßgestellt.
Leviathan bot sofort an, sich mit seinen Männern auf die Suche nach der Ausreißerin zu begeben. Weit könne sie noch nicht gekommen sein.
Der Herrscher der Meere aber wischte Leviathans Vorschlag mit einem einzigen Satz vom Tisch:
»Ich habe keine Tochter!«, brüllte Neptun so laut, dass ein Beben durch den Ozean ging. Damit war dem Fürsten Genüge getan, und Neptun fühlte seine Ehre wieder hergestellt.
Allein Leviathan war mit dieser Lösung nicht einverstanden. Er überwarf sich mit seinem Herrscher und verließ den Hof. Er machte sich Sorgen um Kendra. Er kannte ihre Wünsche nach einem neuen Leben, doch auch ihr Temperament und die Gefahren, die dort draußen auf sie lauerten.
Die Zeiten für Menschen mit magischen Fähigkeiten waren denkbar schlecht. Wohin sie auch kamen, wurden sie verfolgt.
Um das zu ändern, gab es einen Plan. Neptun war der Plan bekannt, doch er wusste nicht, dass Leviathan darin eine Schlüsselrolle spielte. Hätte er das gewusst – er hätte seinen treuen Heermeister niemals ziehen lassen.
Denn Leviathan war nicht nur irgendein Heermeister. Tatsächlich war er ein Raidho – ein Magier der vier Elemente, der zu den Meermenschen geschickt worden war. Ihm war eine wichtige Mission übertragen worden. Eine geheime Mission, für die neben Leviathan weitere Gesandte auf ganz Mannaheim verteilt worden waren.
Leviathans Kräfte waren also groß und sein Instinkt dementsprechend ausgeprägt. Und eben dieser Instinkt führte ihn geradewegs zu der kleinen Insel, auf der Kendra am Strand gesessen und gegrübelt hatte.
Doch als er dort eintraf, half Kapitän Erik bereits Kendra mit liebenswerter Geste zurück auf das Schiff. Da stolzierte sie dahin, auf zwei wunderschönen Beinen, diese eigensinnige und wundervolle Frau, und schenkte obendrein diesem Menschen ihr bezauberndes Lächeln.
Es versetzte Leviathan einen Stich ins Herz. Einen Moment lang erwog er, Kendra ziehen zu lassen und zu seiner eigentlichen Mission zurückzukehren. Doch zu ihrem Glück tat er es nicht. Wild entschlossen verfolgte er das Schiff in sicherem Abstand.
Nachts schwamm er näher heran, hängte sich an den Rumpf des Schiffes und ließ sich mitziehen. Seine Sorge um Kendra
Weitere Kostenlose Bücher