Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)

gefährlich waren. Erbarmungslos jagten sie im Schutze der Dunkelheit. Ihre Opfer hatten selten eine Chance. Nidhöggs lebten vom Blut ihrer Opfer – ähnlich wie Vampire.
    Doch wenn sie nun Oden dienten … was würde das für die Menschen bedeuten?
    »Es gab bisher keine gemeinsamen Ziele der verschiedenen Nidhöggfamilien, oder?«, vergewisserte sich Charlie.
    »Es kommt vereinzelt vor, dass sich zwei Familien für eine Treibjagd zusammenfinden«, antwortete Biarn. »Doch eine Einigkeit des ganzen Bestandes hat es noch nie gegeben. Wenn Oden sie geeint hat, muss er ihnen Opfer versprochen haben. Viele Opfer. Einen anderen Grund kann ich mir nicht vorstellen. Wenn Oden es schafft, die Nidhögg-
Familien zu kontrollieren, steht ihm eine blutrünstige Armee zur Verfügung, wie sie schlimmer nicht sein könnte. Eine Katastrophe.«
    Biarns Stimme verhallte in der Stille der Nacht.
    Charlie schluckte.
    »Was kann er nur vorhaben?«
    Auf einmal lief es ihr siedend heiß über den Rücken.
    »Die Erde!«, rief sie aufgebracht. »Was, wenn er sie zur Erde schicken will?«
    Sie dachte beunruhigt an Jonas, der wahrscheinlich immer noch in der Bibliothek von Storby festsaß. Dort war nicht viel Zeit vergangen. Vermutlich stürmte und schneite es noch immer. Sie beruhigte sich damit, dass er bei diesem Wetter wohl kaum vor die Tür gehen würde.
    »Das wäre natürlich möglich«, überlegte Biarn. »Er hat ja nun das Amulett. Und wir können davon ausgehen, dass er irgendetwas mit Mannaheim vor hat.«
    Charlies Herz sackte eine Etage tiefer. Wegen ihr besaß Oden nun den Schlüssel zur Erde. In Gedanken sah sie Scharen von Nidhöggs über Schweden ziehen.
    Die Menschen würden unvorbereitet getroffen werden. Sie kannten keine Nidhöggs und es war ihre, Charlotta Johanssons, Schuld …
    »Dich trifft keine Schuld«, sagte Biarn mit fester Stimme. Charlie schluckte und wich seinem Blick aus. Sie wollte nicht von ihm getröstet werden. Sie wusste, dass Oden dank ihres Amuletts nun die Möglichkeit hatte, Mannaheim in seine Gewalt zu bringen. Da halfen keine gut gemeinten Worte.
    »Wir wissen außerdem gar nicht, ob Oden wirklich vor hat, die Nidhöggs nach Mannaheim zu schicken«, wiegelte Biarn ab. »In erster Linie müssen wir davon ausgehen, dass er hier auf Godheim etwas erreichen will. Ich nehme an, dass sie ihm bei der weiteren Suche helfen sollen. Nachts war es selbst für seine Bärsärker bisher nicht sicher.«
    Sie konnten nur Vermutungen anstellen, doch diese waren schlimm genug. Alpträume quälten Charlie, in denen die Erde von Tausenden von Nidhöggs angegriffen wurde.
    Und dann war da wieder diese junge Frau mit dem letzten Teil des Amuletts. In Charlies Träumen war sie auf der Flucht. Atemlos stolperte sie durch tiefen Schnee und sah sich alle paar Sekunden panisch nach ihren Verfolgern um. Der Himmel war schwarz vor Nidhöggs.
    Dann fanden Charlies Finger den Hexenstein. Sie umschloss ihn und hielt ihn fest. Seine beruhigende Energie zeigte Wirkung und Charlies Träume änderten sich. Sie sah die junge Frau mit den dunkelblonden Haaren, die über das ganze Gesicht lachte und einen schwarzen Pegasus in den schnellen Galopp trieb.
    Um sie herum wurde glitzernd weißer Schnee von unzähligen Hufen aufgewühlt. Rufe ertönten.
    »Hej, hej, hej!«, hallte es durch die hohen Berge. Eine riesige Herde schneeweißer Pegasuspferde galoppierte über eine Bergkuppe, gefolgt von einer Schar Kentauren – Menschen mit Pferdekörpern.
    Charlie erwachte. Lange lag sie mit offenen Augen da und starrte hinaus in die Dunkelheit. Sie dachte an ihren letzten Traum und spielte abwesend mit ihrem Hexenstein.
    Hatte sie gerade eine Vision gehabt?
    Den Hexenstein als Ring am Finger, glitt sie irgendwann in einen traumlosen, erholsamen Schlaf.
     

8. Trymhem in Jättehem
     
     
    »H ej, hej, hej!«, hallten die Rufe der Treiber über die Berge. Die Sonnenstrahlen brachen sich glitzernd in den Abermillionen Schneekristallen, die alles um Sora herum in eine weiße Märchenlandschaft verwandelten. Kein schroffer Felsen, kein scharfkantiges Gestein war zu sehen – die Bergkette Trymhem erstrahlte in schneeweißem Glanz.
     
    »Hej, hej, hej!«, rief Sora und lenkte ihren schwarzen Pegasus Hravn allein durch Gewichtsverlagerung in die gewünschte Richtung. Die vielen hundert Tiere vor ihr setzten im gestreckten Galopp davon. Sie schnaubten aufgeregt. Hier und da rief eine Stute nach ihrem Fohlen. Tausende Hufe donnerten mit denen der